Kapitel 64: weg

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Die Sterne glitzerten verheißungsvoll und zeigten mir doch nur deutlicher, wie weit weg sie waren.
Entschlossen stand ich auf und schlurfte zum Fenster. Mit einem Ruck riss ich es auf.
"Clare, was soll denn das?" Luke packte meinen Arm. "Leg dich wieder hin und schlaf!"
Wie ein Kind schüttelte ich trotzig den Kopf. "Hier stimmt was nicht", zischte ich. "Ich muss hier weg."
"Clare, dein Gehirn ist überhitzt. Du weißt doch gar nicht was du tust!" Seine starken Hände umfassten meinen Arm fester und zogen mich unaufhörlich zum Bett zurück.
Würde Luke all seine Kraft einsetzen, es wäre ein leichtes für ihn, mich zu zwingen, wieder hin zu liegen, aber noch war sein Protest schwach und so klammerte ich mich verzweifelt am Femstersims fest.
"Warum haben meine Eltern noch nicht Kontakt zu mir aufgenommen? Mein Vater kann sich doch in meinen Geist träumen! Und warum hat Loren noch nicht nach mir gesucht? Warum sind wir hier so total abgeschottet von der Welt? Und warum ist Lee Ann so wild darauf, mich auszubilden?"
Luke starrte mich verwirrt an -zumindest glaube ich das, es war allerdings ziemlich dunkel- und seine Unachtsamkeit erlaubte mir, ein Bein über das Sims zu schwingen. Haltlos baumelte es in der Luft.
"Du hast ja recht", gab Luke zu, "aber warte wenigstens, bis du wieder einigermaßen gesund bist."
"Und wenn ich dann nicht mehr dran denke?"
"Sowas vergisst man doch nicht!"
Verstand er den wirklich nicht? "Und was ist mit den letzten Wochen? Da haben wir es doch auch vergessen. Wir haben es verdrängt, aufgeschoben, unterdrückt. Was, wenn das immer so weiter geht?"
"Dein Gehirn ist überhitzt", wiederholte Luke.
Wütend schnaubte ich. So viel zu vertrauen und gegenseitige Hilfe! "Dann geh ich eben allein!"
Luke seufzte. "Warte" Er wusste, er konnte mich nicht aufhalten. Irgendwann musste schließlich auch er schlafen. Und warscheinlich schlug jetzt auch seine Abenteuerlust durch.
Mit ungeübten Bewegungen streifte er etwas umständlich und komplizierter als nötig Bettlaken und Leintücher von unseren Betten.
Was sollte das jetzt??? Wollte er da draußen übernachten?
Erst als er die ganzen Stoffteile aneinander knotete, begriff ich.
Oh mann. Das war so ziemlich der älteste Trick aller Zeiten und ich checkte es nicht.
Mein Gehirn war eindeutig überhitzt.
Luke hängte das Konstrukt aus dem Fenster und band das obere Ende an der Heizung unter dem Sims fest.
Na, ob die sowas aushielt?
Luke zog einige Male an dem "Seil", dann zwängte er sich neben mich auf das Fensterbrett und ließ sich an den Laken entlang nach unten gleiten. Das ganze sah ziemlich einfach aus. Lässig und geschickt.
Bei mir war das leider was ganz anderes. Der Stoff verheddert sich um meine Füße und meine Arme fühlten sich an wie Wackelpudding, dabei sollten die doch mein gesamtes Gewicht halten. Es war zum verzweifeln. Keine Ahnung, wie die Künstlerinnen im Zirkus dabei am Vertikaltuch auch noch elegant wirken können.
Irgendwie kam ich dann trotzdem unten an. Und zwar ohne gebrochene oder verstaucht Gliedmaßen. Nur schwindlig war mir jetzt wieder ziemlich. Auch Luke merkte das, denn er legte meinen Arm auf seinen und stützte mich. Langsam verließen wir das Gelände.
Im Weggehen sah ich noch einmal zurück zu den Laken, die wie eine lange Fahne aus dem Fenster hingen. All das fühlte sich so vertraut an.
Wir waren geflohen.
Durch ein Fenster.
Und hatten Jess und Julian zurück gelassen.
Mal wieder.
Ich war eine schlechte Freundin.

Hallo!
Sorry, dass es schon wieder zwei Wochen gedauert hat. Die Ferien waren jetzt doch ziemlich voll und dann hat mich zu allem Überfluss auch noch am letzten Ferientag ein Fahrradfahrer umgefahren (das Ergebnis: Ein aufgeschlages Knie, Prellungen am linken Ober- und Unterarm und ein kaputter Hullahoop).
Ich freue mich wie immer über jedes Vote und jeden Kommentar.
Danke, dass ihr so lange ausgehalten habt und danke, dass ihr mich immernoch unterstützt. Ihr seid super!

TraummörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt