Kapitel 44: Flimmern

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Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. Dann putze ich mir mit der Zunge auch noch die Zähne. Erst dann widme ich mich wieder meinem Opfer. Die Augen meines Opfers sind geweitet.

Ich weiß nicht, wer es ist. Ich kenne diese Person nicht.

Ich werfe einen letzten Blick in die schreckgeweiteten Augen.

Ganz leicht spiegelt sich mein Gesicht in ihnen. Fasziniert sehe ich genauer hin.

Ich wusste nicht, dass ich so aussehe. Bisher war ich nur meine Hand, meine Waffe und mein Auftrag. Mein Auftrag zu töten.

Ich erkenne mich. Meine Erinnerung kehrt zurück. Was mache ich hier?

Ich stolpere zurück und lasse das Messer fallen. Kein Blut klebt daran.

In meiner Erinnerung taucht ein Bild von einem ganz ähnlichen Messer auf, doch an diesem hatte Blut geklebt.

Wegen mir.

Was hatte ich getan?

Von selbst greifen meine Hände nach meinem Kopf, umfassen ihn, halb um ihn zu stützen, halb um ihn anzureisen.

Im inneren Kampf sinke ich auf die Knie.

Ich verliere. Gegen mich selbst.

Seufzend greife nach dem Messer.

Noch ein letzter Blick auf mein Opfer.
STOPP!

Ich kenne mein Opfer! Ich erkenne es erst jetzt, doch ich kenne es.

Gut sogar.

Zumindest dachte ich das.

Ganz kurz spiele ich mit dem Gedanken, es jetzt erst recht umzubringen.

Es ist Luke.

Der Luke, dem ich vertraut habe, der Luke, der mich verraten hat.

Doch dann besinne ich mich.
Ich muss es kontrollieren!

Doch ich habe nicht die Kraft. Nicht die Kraft, mich abzuwenden.

Stattdessen renne ich direkt auf ihn zu.

Kurz wundere ich mich, seit wann ich auf einem Turm bin, doch dann ist es auch schon zu spät.

Mit Schwung springe ich neben Luke über das Geländer.

Und falle.

Falle.

Falle.

********

Ganz flach lag ich im Bett, Beine und Arme zur Seite gestreckt. Mein Atem ging mindestens genauso flach.

Ich hatte es geschafft! Ich hatte ihn nicht getötet.

Und doch konnte ich mich nicht über meinen Erfolg freuen. Denn sofort war alles wieder da, strömte auf mich ein. All der Schmerz. Luke hatte mich verraten. Luke hatte mich ausgenutzt.

Die Worte des Briefes ließen sich nicht aus meinem Gedächtnis löschen.

Hier konnte ich nicht bleiben. Ich musste das alles irgendwie abschütteln.

Auf wackligen Beinen verließ ich mein Zimmer und suchte die Küche.

Eigentlich wollte ich nur etwas Schokolade essen. Das sollte ja angeblich helfen. Doch dann sah ich die Weinflaschen und plötzlich übte

der Alkohol eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus. Ich wollte den Schmerz ertränken.

Ich schnappte mir gleich drei Flaschen und lief auf Deck.

Gestern Abend waren wir in einem Hafen eingelaufen, ich war also nicht mehr an das Schiff gefesselt.

Bepackt mit meinem Getränk lief ich, bis ich an einen dunklen, verlassenen Strand kam. Dort setzte ich mich in den Sand und entkorkte die erste Flasche.

Ich hatte noch nie mehr als ein paar Schlucke Wein zum Anstoßen auf Festen getrunken. Ich hasste den Geschmack von Alkohol. Er brannte mir in der Kehle, schmeckte bitter nach, verdarb mir den Appetit. Ich hatte nie gedacht, dass ich mich jemals betrinken würde.

Die ersten Schlucke würgte ich hinunter, doch bald war es mir egal. Die Welt um mich herum verschwamm und auch der Schmerz in mir verwischte zu einem undeutlichen Ziehen. Ich schaffte es nicht, alle Flaschen zu leeren. Schon davor wurde es dunkel um mich und ich sank in eine unwirkliche, flimmernde Traumlandschaft.

TraummörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt