"...dieser Zug endet hier, wir bitten sie deshalb, alle auszusteigen", verkündete die höflich genervte Stimme aus den Lautsprechern.
Vorsichtig stupste ich Luke an. Als er etwas unverständliches nuschelte und ich sicher sein konnte, dass er wach war, pikste ich Jess in die Seite. Sie quitschte auf und schlug nach meiner Hand.
"Was'n los?", fragte sie verschlafen.
"Wir sind an der Endstation! Alle raus!", rief ich gespielt entrüstet. "Hört denn außer mir niemand die Durchsagen an?!"
Jess räkelte sich gähnend.
Luke stand inzwischen schon auf dem Sitz und zog das Gepäck aus der Ablage. Endlich raffte sich auch Jess auf, schnappte ihren Koffer und wir verließen den Zug.
*************
Die Jugendherberge, in der wir untergekommen waren, war ziemlich klein. Die Zimmer enthielten nur Waschbecken, zum duschen musste man in die Gemeinschaftsdusche. Toiletten gab es auch nur zwei pro Flur.
Wir belegten ein Viererzimmer mit typischen Hochbetten, wie es sie auf Klassenfahrten immer gab. Jess und ich hatten uns sofort die oberen Betten gekrallt und Luke hatte sich mit den unteren zufrieden geben müssen.
Wir sparten uns das auspacken zwar, aber trotzdem musste das Gepäck irgendwie im das Zimmer passen. Wir puzzelten noch, wie wir das möglichst platzsparend hinbekamen, da grummelte mein Magen plötzlich so laut wie ein Hubschrauber.
"Das nenn ich mal 'ne Ansage", lachte Luke und ich wurde natürlich prompt feuerrot.
" Ich würde sagen, wir gehen mal essen", schlug Jess vor und wurde dabei von ihrem nun auch knurrenden Magen unterstützt. Wie ich wurde auch sie rot. Bald konnten wir im partnerlook gehen. Musste nur sie nur noch ihre Haare tönen (so blond wie ihre würde ich meine nie bekommen) und ich mir Locken machen.
"Also dann, ab zum Essen", rief Luke und klopfte sich auf die Schenkel.
Lachend liefen wir zum Speisezimmer. Es gab Salat, Lasagne und Pudding.
Ich war zur ausgewogenen Ernährung erzogen worden, also aß ich klaglos den Salat, während Jess lieber auf den Hauptgang wartete. Luke nahm sich auch ein wenig auf den Teller, aber die Salatschüssel leer zu machen war mein Job.
Als dann die Lasagne kam, war es mein Part, schleckig zu sein. Zum Glück hatte das Gericht nur eine Schicht Hackfleisch. Ich klappte die oberen Nudelplatten weg und kratze mit dem Messer das Fleisch ab.
"Isst jemand für mich das Zeug?" Fragend sah ich in die Runde.
" Na, gib schon her", Luke leerte sich das Fleisch auf den Teller. " Magst du kein Fleisch?"
Jess schluckte ihren Bissen herunter und erklärte: "Sie ist Vegetarier. Ziemlich Kompromisslos."
Luke sah mich verdutzt an. " Willst du damit was gut machen?"
Ich lachte auf. Keine schlechte Idee. "Falls du meinst, weil ich das Gefühl hab, dauernd jemand zu ermorden? Nein, ich bin schon lange Vegetarier. Ich wäre warscheinlich schon seit meiner Geburt fleischlos aufgewachsen, wenn ich gedurft hätte. Aber meine Mutter wollte, dass ich mich ordentlich ernähre bis ich aus den Wachstumsphasen raus bin."
"Du mochtest schon als Kind kein Fleisch? Wie geht sowas?" Luke sah mich an als wäre ich das 8. Weltwunder.
" Ich mochte schon Fleisch. Aber als ich erstmal erfahren hab, dass es aus den süßen Tieren bestand, die ich gestreichelt hatte, musste ich jedes Mal, wenn ich Fleisch gesehen hab, weinen."
Jess prustete in ihren Teller. " Oja, daran erinnere ich mich noch."
Meine Mundwinkel verzogen sich nach unten. "Man, musst du mich immernoch damit aufziehen?"
Luke sah von einem zum andern. "Darf ich den Witz auch hören?", fragte er gespielt mürrisch.
Jess kicherte. "Wir waren damals im Kindergarten und dann war ein Fest und da gab es Leberkäswecken. Naja, die Erzieherin wollte ihr einen geben und da hat Clare ganz laut geschriehen 'ICH ESSE KEINE TOTEN TIERE'. Ihre Mutter musste danach allen versichern, dass sie ihrem Kind das nicht beigebracht hatte, sondern es Clares Dickschädel war. Nicht, dass man sie für eine schlechte Mutter hielt."
Luke lachte mit, doch ich sah seinen Blick besorgt auf mir ruhen. Wir brachten das Essen hinter uns und liefen dann ins Zimmer zurück.
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"Was hast du Jonas eigentlich noch erzählt?" Jess lag schon im Bett, ich zog mich noch um und Luke war aufs Klo gegangen, um uns Zeit zu geben.
Ich zuckte mit den Schultern. "Wir haben ein bisschen in WhatsApp geschrieben, dann hab ich ihm vorgeschwärmt, wie toll der Urlaub werden wird, dann eingeflochten, wie dankbar ich ihm doch bin, dass er mir am Montag geholfen hat, als ich in Sport zusammengeklappt bin, und dann hab ich geschickt das Thema auf seinen Urlaub gelenkt. Ich glaub, er hat darüber dann vergessen, das er mir nicht geglaubt hat."
Jess kicherte leise. " Kein Wunder. Er steht ja auch auf dich!"
Ich knurrte sie an und sprang zu ihr aufs Bett. In einer geschmeidigen Bewegung drückte ich ihre Arme nach unten und kitzelte sie durch, bis sie vor Lachen keine Luft mehr bekam.
"Hö-hör auf bi-bitte", juchzte sie.
Erschöpft ließ ich mich zur Seite rollen. Keuchend lagen wir da, wir schauften und dann lachten und kamen uns vor wie damals, als wir noch klein waren, als das Leben noch perfekt war.
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Ich wartete, bis es vollkommen ruhig im Zimmer war, die Stille wurde nur unterbrochen von dem gleichmäßigen atmen meiner Begleiter.
Leise schlüpfte ich unter der Decke hervor und kletterte die Bettleiter herunter. Ich schlich zum Fenster. Der Mond leuchtete heute sehr hell. Ich war mir nicht gamz sicher, ob schon Vollmond war, jedenfalls war er sehr rund. Meine Hände berührten das kalte glatte Sims und stützten mich. So hart, so unnachgiebig fühlte es sich unter mir an. Ich lehnte die Stirn an die Scheibe. Auch sie war kalt, glatt und hart, vollkommen unnachgiebig.
"Schläfst du denn noch nicht?" Lukes Stimme war so weich, sie stand in vollem Kontrast zu der Härte an meiner Haut.
" Wie sollte ich?" Ich räusperte mich. Meine Stimme war ganz kratzig. Sie hörte sich kalt an, wie der Stein des Sims, wie das Glas des Fensters.
Seine Stimme war ganz warm, ganz anders als meine. Er stellte sich neben mich und fing an zu reden. Ganz leise nur, um Jess nicht zu wecken, vermutete ich. Er sprach über alles mögliche. Über die Schule, über das, was er sich vom Leben erträumte, über die Nacht und die Schatten, über Licht und Dunkelheit, über die Ziele, die man brauchte, über Hoffnung und Gerechtigkeit und Unrecht. Die Worte schienen nur so aus seinem Mund zu fließen und lenkten mich von meinem Drübsal ab. Während seiner Rede legte er die Hände auf meine Schultern und zog mich von dem Fenster weg, ganz langsam, sodass ich es kaum merkte, entfernte ich mich von all der Kälte. Er drückte mich vorsichtig an sich, so als könnte ich jederzeit weglaufen, wenn er mich erschreckte, und wer weiß, vielleicht war es ja auch so, und rieb über meine Arme bis mir warm war. Erst als alle Gänsehaut verschwunden war und meine Ohren von dem beruhigenden Klang seiner Stimme erfüllt war, ließ er mich los. Er brachte mich zu meinem Bett.
"Schlaf ein wenig, du hast es nötig", wisperte er.
Ich kroch in mein Bett und stellte mich dem Schlaf.
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Traummörder
Teen FictionJede Nacht träumt Clare, dass sie jemanden umbringt. Als sie schießlich im Traum ein Kind ermordet, stürzt sie in sich zusammen. Unverhofft erhält sie Hilfe von Luke, von dem sie nichts weiß außer seinem Vornamen. Auf den Hinweis eines mysteriösen B...