Die Verhandlung

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Am nächsten Morgen hatte ich immer noch den Text meines Lieblingssongs im Kopf, als Grace und ich mit dem Bus erst zu mir, damit ich meinen Anzug, den ich zum Abi-Ball meines Bruders gekauft hatte anziehen konnte. Daraufhin fuhren wir weiter zum Gerichtssaal, der neben der Kirche stand.
Kein Wunder, immerhin musste Grace den ganzen Abend und danach weitere zwei Stunden vom Morgen überlegen, was sie anziehen könnte, während ich auf ihrem rosafarbenen Bett lümmelte. Schließlich hatte sie sich für eine strahlend weiße Bluse mit Spitze entschieden, dazu eine enge schwarze Jeans und schwarz-graue Sneakers. An ihren Ohren hingen kleine rosafarbene Ohrringe mit noch kleineren Perlen, ihre Haare waren offen und gewellt.
Meine Haare waren wie immer zerzaust. Da es sehr ungewöhnlich war, dass Jackets Kapuzen hatten, trug ich sie offen, auch wenn ich mich die ganze Zeit unwohl fühlte. Aber ich wurde ja nicht gefragt.
Grace musste sich trotzdem ganz schön bemühen, nicht zur Bürste zu greifen, wenn sie meine Frisur erblickte. Grinsend erwiderte ich den Blick.
Endlich angekommen stiegen wir aus und sahen schon die anderen vor dem Saal stehen und warten. Wir gingen auf sie zu, begrüßten einige und Grace ging auf Hailey zu. Ihre Freundin trug ebenfalls eine helle Bluse mit schwarzer Jeans. Die Mädchen umarmten sich und fielen sofort in ein Gespräch, was mich nicht besonders interessierte.
Stattdessen ging ich auf Abby und Lynne zu, die so aussahen, als ob sie ebenfalls die Clique suchten. ,,Hey Mädels.", begrüßte ich sie. ,,Hi Michael.", kam es von beiden gleichzeitig zurück und Abby musterte mein Jacket. ,,Cooles Outfit." ,,Danke, gleichfalls.", grinste ich frech und blickte an ihrem leicht übers Knie gehendes schwarzes Kleid hinunter. Abby hasst Kleider. Mit ihrem Todesblick konnte sie mich allerdings nicht vom Lachen abhalten.
,,Tja, Abby hat sich heute wohl nicht durchsetzen können.", erklärte Lynne ebenfalls rotzfrech. Abby blitzte ihre Schwester an und gab ihr einen kräftigen Knuff in die Seite. ,,Halt die Klappe, Lynne!"
Sleana ging hinter mir zur Seite und endlich tauchten Jeff, Leah, Melina, Chris, Luke und MR auf.
,,Schönes Kleid, Abby.", kommentierte MR freundlich, doch Abbys Augen färbten sich bereits rot. Panisch blickte ich Lynne an, doch sie schüttelte zu meiner Erleichterung den Kopf. ,,Kein Anfall." bedeutete das. Beruhigt atmete ich aus.
So ein Chaos will ich nicht noch einmal erleben. Und schon gar nicht in der Clique.
Abby könnte sich inzwischen beruhigen, murmelte ein noch hörbares Danke und Luke legte den Arm um seine Freundin. ,,Ach, ich finde, das steht dir.", lächelte er. Abby rollte lächelnd mit den Augen. ,,Schleimer."
,,Hey!" Jeff, ich und die anderen wirbelten herum und sahen eine kleine Truppe Jugendlicher, die gerade an uns vorbei und über die Straße gingen. Der Typ, der uns zurief, war ein kräftiger, aber kleiner Junge mit braunen Stoppelhaar. Mit seinen kurzen dicken Fingern deutete er auf Jeff. ,,Eine schöne Verhandlung auch, Kreidefresse!"
,,Selber, du Opfer!", brüllte Jeff zurück und fasste schon mit einem Schritt nach vorne nach seinem Messer, doch Leah und ich hielten ihn zurück. ,,Jeff, nicht jetzt."
Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und wir alle drehten uns wieder um. Dort standen die Türsteher vom Gericht und ein paar Polizisten. Sie hielten uns mit hochgezogenen Gesichtsausdrücken die Tür auf. ,,Bringen wir's hinter uns.", murmelte Chris und sah noch zu mir. Ich nickte und er ging weiter.
Plötzlich spürte ich eine warme Hand an meiner. Ich schaute auf sie und dann zu Lynne. Mein Blick sagte so viel wie: ,,Ähh..." Doch Lynne nickte nur sanft, die Hand um meine verschlossen. Ich grinste sie leicht an und zusammen folgten wir den anderen zum Gerichtssaal.
Was ich allerdings nicht mitbekam war, wie Grace und Melina uns erstaunt nachsahen, sich dann triumphierend angrinsten und ein High-Five gaben.

Drinnen herrschte eine angenehme kalte Temperatur. Als Klasse schlenderten wir den Türstehern nach in den Saal, in dem unser Urteil wartete. Dort saßen bereits Zuschauer, darunter auch Leah. Mit besorgtem Lächeln winkte sie uns kurz zu, doch wir gingen an ihr vorbei und setzten uns in die vorderen drei Bänke.
,,Au! Mein Kleid!"
,,Hast du einen Labello, Skye?"
,,Ist mir gerade ernsthaft mein Nagel abgebrochen?"
,,Mädels, könntet ihr bitte eure Klappe halten?"
Chris drehte sich neben uns mit einer genervten und aufgewühlten Miene wieder nach vorne.
,,Äh, Leute?" Die Clique, Grace, Hailey und Luke beugten sich gleichzeitig nach vorne um zu MR zu sehen.
,,Ist hier vielleicht jemand unter uns, der schonmal bei einer Gerichtsverhandlung war und gewisse Erfahrung damit hat?" Wir alle starrten sie an, ganz besonders Luke, Chris, Jeff und ich. ,,Hältst du uns für geisteskrank?", fragten wir sie wie aus einem Mund. Doch auf einmal stupste mich Lynne mit ihrer Schulter an. ,,Pssst, Jungs. Der Richter ist da!"
Wir hielten sofort unsere Klappe und jeder drehte seinen Kopf zur Tür neben den Richterplatz. In seinem gewöhnlichen Gewand, wie man es aus dem Fernseher kannte, kam der Chef des Tages herein und als mich Abby leicht mit dem Ellenbogen anstieß und mir mit einer Kopfbewegung zeigte, dass alle bereits aufgestanden sind, rappelte ich mich ebenfalls schnell auf. ,,Wir begrüßen recht herzlich Richter John Cannor.", stellte ihn uns einer der Türsteher vor.
,,Hi.", kam es plötzlich kleinlaut, aber deutlich aus unserer Bank. Wir alle starrten ganz nach links zu Chris, der rot vor Scham dastand, da er mitgekriegt hatte, dass er als einziger geantwortet hatte. Melina, Jeff und MR unterdrückten sich ein Lachen und ich schaute unsicher in die Augen des Richters. John Cannor erwiderte stechend meinen Blick, bevor er sich hinsetzte. ,,Nun, ich begrüße Sie ebenfalls alle recht herzlich zu dieser Verhandlung. Heute werden wir den Mord von Mr. Ezra Fitz aufklären. Bisher wissen wir, dass der 23-jährige während eines Feuers im Stadtgymnasium mit einem Tuch erstickt. Der Brand brach am Freitag, den 22.8.2014 gegen 18:30 Uhr aus und außerdem gibt es Zeugen, die berichten, die Klasse 8b hätte das Feuer entfacht und den Sportlehrer ermordet. Nun frage ich Sie als Klasse: Sind Sie alle zu diesem Zeitpunkt in der Schule gewesen?" ,,Ja.", antworteten wir alle murmelnd und als wir es aussprachen, stieg in mir ein unwohles Gefühl hoch. ,,In Ordnung, fahren wir fort. Hatte jemand in diesem Raum etwas gegen die Anschuldigung zu sagen?", fragte der Richter. Sofort holten wir tief Luft. ,,Außer die Angeklagten." Wir seufzten auf.
Aber er hatte recht. Ohne vernünftige Beweise waren wir wehrlos.
Er machte weiter: ,,Nun, da anscheinend niemand etwas gegen die Beschuldigung zu sagen hat, wäre das Urteil sechs Jahre Haftstrafe im Jugendknast..." ,,Einspruch!", rief Leah urplötzlich. Unsere Köpfe drehten sich schlagartig zu ihr.
Sie stand aufrecht mit geballten Fäusten in der Bank und war außer sich. Beängstigend.
,,Setzen Sie sich, Mrs. Parker.", knurrte der Direktor aus den hinteren Reihen. ,,Halten Sie die Fresse!", schrie Leah ihn einfach an. Das war jetzt nicht mehr beängstigend. Das war beeindruckend.

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