Ilan wohnte nur wenige Straßen entfernt. Mit dem Buch in der Hand und voll beladen mit drei großen Taschen machte Lena sich auf den Weg zu ihm. Die Abendluft war kühl und trocknete die letzten überbliebenen Tränen auf ihren Wangen. In der Ferne rauschten Autos die Hauptstraße hinunter. Ein Hund bellte zwei Straßen weiter.
Obwohl Lena sich immer noch elend fühlte, war sie froh, dass sie aus dem Haus heraus kam. Sie wusste nicht, wie ein Gebäude, das ohne ihre Mutter so leer war, sich so eng anfühlen konnte. Es nahm ihr die Luft zum Atmen. Manchmal hatte sie das Gefühl, zu ersticken, wenn sie alleine in ihrem Zimmer saß und vergeblich ihre Mutter herbei sehnte.
Sie steckte das Buch in eine der Seitentaschen ihres Rucksacks und überquerte die nächste Kreuzung. Wie würde Ilan reagieren, wenn sie ihm erzählte, was passiert war? Bestimmt würde er sie trösten. In den Arm nehmen. Dann würde er ihr einen guten Ratschlag geben, der, wenn sie ihn befolgte, die ganze Angelegenheit wie in Luft auflösen würde.
Bei dem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln. Diese Seite an ihm musste man einfach lieben – egal ob nun als beste Freundin oder heimliche Verehrerin. Es tat gut, in seiner Nähe zu sein und es hatte ihr bisher immer Trost gespendet. Wenn sie zusammen lachten, fühlte sich die Welt gleich ein Stückchen besser an.
Die blaue Fassade des Hauses lachte sie wie immer fröhlich an. Als sie auf die Tür zutrat, flammte eine Laterne auf, wie, um sie willkommen zu heißen. Direkt davor lud sie erst einmal alle ihre schweren Taschen ab und klingelte dann. Es dauerte nicht lange, bis Herr Spelzig öffnete. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Hallo, Lena. Komm herein.“
Lena tat wie geheißen und zog ihre Taschen hinter sich her.
„Danke, dass ich heute hier bleiben darf.“
„Du machst ja keine Umstände. Ilan ist in seinem Zimmer.“, sagte Herr Spelzig und verschwand hinter der Wohnzimmertür. In diesem Moment kam Ilan auch schon die Treppe herunter. Bei seinem Anblick machte Lenas Herz einen Satz. Er trug eine Jogginghose und ein altes T-Shirt. Seine Haare waren wie immer durcheinander, sein Lächeln wirkte ein wenig besorgt.
„Hi, wie geht es dir?“, fragte er. Weil sie nicht lügen und auch nicht im Flur in Tränen ausbrechen wollte, hob sie nur die Schultern.
„Ich musste einfach mal weg von zuhause.“, seufzte sie. Ilan nahm ihr zwei Taschen ab und ging damit in die Richtung seines Zimmers. Lena folgte ihm mit der dritten.
Es war unfassbar. Obwohl sich ihr Leben in den letzten Wochen komplett verändert hatte, war hier alles wie sonst auch. Ilans Vater benahm sich wie immer freundlich, Ilan schleppte wie immer ihre Taschen und sogar die Matratze in Ilans Zimmer lag schon auf dem Boden. Es war wie ein Ritual, das sich wiederholte und das beruhigend auf Lena wirkte, weil sie schon vorher genau wusste, was passiert. Keine bösen Überraschungen. Es war wie etwas, woran man sich festhalten konnte. Ein emotionaler Anker, wenn man so wollte. Und Lena klammerte sich verzweifelt daran fest, um nicht fortgespült zu werden.
Sie half Ilan beim Beziehen der Matratze, dann schoben sie sie gemeinsam an das Bett. Ilan holte eine Tüte Chips und zwei Flaschen Cola. Lena nahm die frisch bezogene Decke und drapierte sie so auf das Bett, dass sie zur Hälfte herunter hing und so eine Lehne bildete. Sie setzten sich nebeneinander auf das selbstgebastelte Sofa.
Die Chipstüte knisterte laut beim Aufreißen, einige Chips vielen auf die Matratze. Lena musste plötzlich lachen. Es war genau so wie immer. Erinnerungen an schöne Momente in der Vergangenheit wurden geweckt. Wie damals, als Mel noch bei ihnen war und sie zu dritt hier gesessen und Mels dreizehnten Geburtstag nachgefeiert hatten. Ilans Vater hatte ihr zur Feier des Tages ein halbes Glas Wein eingeschenkt und Mel konnte für den Rest des Abends nicht mehr aufhören zu kichern. Irgendwann haben auch Ilan und sie lachend daneben gelegen, weil es einfach so ansteckend gewesen war.
Lena nahm sich eine große Hand voll Chips aus der Tüte und begann zu kauen. Ilan machte es ihr nach.
„Jetzt erzähl“, nuschelte er mit vollem Mund, „Was ist los?“
Ach ja, deshalb war sie hier. Bei der ganzen guten Laune hatte sie den unschönen Anlass für ihren Besuch schon fast wieder vergessen. Sie musste kräftig schlucken, um den Mund frei zu bekommen.
„Mein Vater will mich zum Psychiater schicken.“ Jetzt, inmitten von weichen Decken und Chips, sah das Problem wirklich nicht mehr so groß aus. Es hörte sich eher komisch an. Nicht wie ein richtiges Problem, vielmehr wie ein harmloser Witz, über den sich Freunde zusammen amüsieren konnten. Ilan schien das ähnlich zu sehen, denn er lachte laut los.
„Um dem dann was über deinen seelischen Zustand zu erzählen, oder was?“, er grinste, „Da kann er lange warten. Lena Winter wird ihm nichts erzählen, nicht in dreitausend Jahren und auch nicht unter Folter.“
Lena spielte beleidigt.
„So verschlossen bin ich gar nicht. Ich erzähle dir fast alles.“
„Mir vielleicht.“, er nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche Cola, „Aber für alle anderen Menschen bist du ein verschlossenes Buch. Mit zehn Schlössern daran. In einem bombenfesten Safe.“, er lachte, „Du musst folgendes einsehen: Wenn ich dir bei deinen Problemen nicht helfen kann, kann es keiner.“
Da hatte er Recht. Lena fing an zu kichern.
„Vielleicht solltest du Psychologe werden.“
Ilan machte ein angeekeltes Gesicht.
„Um anderen Menschen in ihr Gewissen zu reden? Nein, nein, das mache ich nicht. Wenn Psychopaten meinen, dass sie verrückt sein wollen, sollte man sie verrückt sein lassen.“
„Ach, so schlimm ist der Beruf sicher nicht. Deiner Mutter würde er gefallen.“
„Meiner Mutter gefällt auch jeder Beruf, mit dem ich genug Geld verdiene, um später ihre Rente zu sichern.“ Lena kicherte wieder und stopfte sich noch ein paar Chips in den Mund. „He! Iss mir nicht alles weg!“, klagte Ilan.
Lena warf einen Blick in die Tüte. Sie war schon zur Hälfte geleert.
„Tut mir leid, ich hab heute fast noch nichts gegessen.“
„Vielfraß!“ Er knuffte sie neckend in die Seite. Dann lachten sie beide.
Deshalb mochte sie Ilan so. Gerade mal zehn Minuten war sie bei ihm und schon war sämtlicher Kummer wie weggeblasen. Einen schöneren Abend hätte sie sich nicht ausdenken können.
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...