Epilog

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Der Hammer fiel mit lautem Dröhnen.

Das Urteil war gefallen.

Wie betäubt schwankte Nell aus dem Gerichtssaal. Der Angeklagte war wegen Trunkenheit am Steuer und fahrlässiger Tötung für zwei Jahre auf Bewährung ausgesetzt worden. Ein enttäuschendes Urteil, wie Nells Vater fand.

Nell war es gleich.

Das Bild des Mannes hatte sich in allen Einzelheiten in ihr Gedächtnis eingebrannt und würde dort auch sicher nie wieder verschwinden. Seine reumütigen, grauen Augen, die ehrliche Betroffenheit in seinen Gesichtszügen…

Er war nur ein Mensch, wie sie auch. Er hatte einen Fehler gemacht. Sicher war es schwer für ihn, damit umzugehen, einen anderen Menschen auf dem Gewissen zu haben.

Nell hätte ihn hassen sollen. Hätte ihm alles Schlechte der Welt an der Hals wünschen sollen – doch sie tat es nicht. Alles, was sie fühlte, waren Leere und Trauer.

Sie konnte diesen Menschen nicht hassen, der einen ähnlichen Fehler wie sie selbst begangen hatte. Bei ihrem Autounfall hätte ebenfalls jemand verletzt werden können. Sie wäre dafür verantwortlich gewesen.

Zum Glück war niemand verletzt worden – abgesehen von ihr selbst. Ihr rechter Arm sowie zwei Rippen waren gebrochen und sie hatte eine leichte Gehirnerschütterung erlitten. Ein Bußgeld und der Schadensersatz waren alles, was sie zahlen musste. Außerdem war sie zu einem Aufbauseminar eingeladen und ihre Probezeit um zwei Jahre verlängert worden. Ihren Führerschein würde sie ein halbes Jahr nicht wiedersehen.

Es hätte schlimmer kommen können.

Wesentlich schlimmer.

Der Mann, der damals unter Einfluss von Alkohol ihre Mutter von der Straße gedrängt hatte, hatte verdammt viel Pech gehabt. Seine Bußstrafe war ungleich höher als die ihre – der Führerschein war für die nächsten Jahre weg. Doch das, was für ihn sicher das Schlimmste war, war das Wissen, den Tod eines anderen Menschen verschuldet zu haben. Nell waren die schuldbewussten Blicke, die er während des Prozesses ihr und ihrem Vater zugeworfen hatte, nicht entgangen.

Sie hatte sie bloß nicht erwidern können.

Sie hoffte inständig, diesem Mann niemals wieder begegnen zu müssen.

 * * * * * * * * * *

Die Möbel waren an die Seite geräumt, bis auf vier Kissen, die mitten im Raum lagen und ein einheitliches Quadrat bildeten. Das Licht war gedimmt und schummrig. Aaron hatte diesen dramatischen Effekt unbedingt haben wollen. Er fand, es wäre so offizieller und gliche einer Verschwörungsratssitzung – was immer das auch sein mochte – eher.

Auf den Kissen saßen Niel, Dora, Aaron und Nell. Sämtliche Augen waren auf das rote Büchlein gerichtet, welches Aaron aus der Tasche zog und mit einer beinahe zeremoniellen Geste in die Mitte der vier Freunde legte. Die fragenden Blicke der Geschwister ließen erkennen, dass sie keine Ahnung hatten, was er damit bezwecken wollte.

Mit ernsthafter Tonlage begann Aaron zu sprechen. „Euch ist sicher aufgefallen, dass in letzter Zeit etwas nicht in Ordnung ist… dass ihr euch manchmal nicht wie ihr selbst fühlt…?“

Die beiden nickten zögernd. Selbstverständlich hatten sie es bemerkt und es war offensichtlich, dass sie die Verbindung zwischen dem und diesem Treffen, das Aaron arrangiert hatte, nicht wirklich erkannten.

Nell tauschte einen verständigenden Blick mit dem Schwarzhaarigen aus, ehe sie das Wort ergriff.

„Wir müssen euch eine Menge erklären…“

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt