„Lena?“
Die Stimme ihres Bruders riss sie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie konnte die Augen nicht öffnen, geschweige denn einen Ton von sich geben. Sie hatte immer noch furchtbare Angst.
„Oh Gott… Lena!“
Sie spürte, dass starke Arme sie umfassten und an ihr zogen. Ihre Beine wurden langsam befreit. Julian redete auf sie ein, doch sie verstand den Sinn der Worte nicht. Seine Stimme klang nervös, vielleicht sogar panisch.
Dann hatte er sie gänzlich aus dem Schlammloch herausgezogen und hob sie nun auf seine Arme. Lena merkte, dass er zu laufen begann und sich hastig zwischen den Bäumen hindurchschlängelte.
Blinzelnd versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie konnte Julians Gesicht erkennen. Sorge und Verwirrung spiegelten sich darin wider. Lena versuchte, einen Blick auf den Wald zu erhaschen. Sie konnte nicht sehen, wo sie herkamen, doch wo auch immer sie gerade waren: Hier sah der Wald normal aus. Keine tanzenden Bäume, keine unheimlichen Geräusche, kein Gestank.
Lena schloss die Augen wieder und versuchte stattdessen zu sprechen, doch auch das gelang ihr noch nicht ganz. Sie hörte sich ein leises Krächzen von sich geben.
Julian wurde auf sie aufmerksam und stoppte mitten im Lauf.
„Lena! Geht es dir gut?“
Sie nickte nur etwas benommen. Ihr Bruder setzte sie auf dem Boden ab, zwischen zwei hervorstehende Wurzeln eines Baumes. Er hockte sich vor sie, nahm ihr Gesicht in beide Hände und musterte es genau.
„Bist du dir sicher?“
Erneutes Nicken. Lena wand ihren Kopf aus seinem Griff und sank ein wenig erschöpft gegen den Baumstamm. Sie beobachtete Julian dabei, wie er sich nervös nach beiden Seiten umschaute. Auf seinen Zügen lag offenkundige Angst. Fragend richtete er seinen Blick wieder auf sie.
„Was war das?“
Seine Augen waren vor Schreck geweitet und Lena meinte Verzweiflung in seiner Stimme zu hören. Sie hob die Schultern und versuchte sich wieder aufzurichten. Ihre Stimme klang ein wenig heiser, vermutlich vom vielen Schreien.
„Ich weiß es nicht.“
Augenblicklich kribbelte ihre Nase. Sie runzelte die Stirn. Wusste sie es doch?
Julians Blick huschte in die Richtung aus der sie gekommen waren.
„Es war jedenfalls richtig unheimlich.“ Er fuhr sich nervös mit einer Hand durch seine Haare. „Ich habe dich schreien gehört und bin gekommen. Plötzlich war alles wie… verwandelt…“ Er wandte sich hilfesuchend an sie.
Jetzt ging Lena ein Licht auf. Alles hatte sich verwandelt – und zwar in ihre Geschichte! Die Umgebung war ihr schon die ganze Zeit so vertraut vorgekommen. Wieso war ihr das nicht eher aufgefallen – es war der Sumpf! Der Wald hatte sich in den Sumpf aus ihrem Tagebuch verwandelt, so wie sich in letzter Zeit vieles verwandelte und sich in diese Welt verirrte.
Sie schüttelte verblüfft ihren Kopf. Dann blickte sie zu ihrem Bruder auf.
„Es war schon ziemlich unheimlich…“
Was sollte sie tun – es ihm erzählen? Würde er ihr glauben oder sie für verrückt erklären wie alle anderen? Würde er auch denken, sie könne den Tod ihrer Mutter nicht verarbeiten und jetzt auch noch halluzinieren? In letzter Zeit war sie nicht mehr häufig bei Frau Engel gewesen, doch das konnte Julian durch einen einfachen Anruf bei ihrem Vater ändern.
Lena entschied, sich erst einmal unwissend zu stellen. Vielleicht würde sich Julian ganz von alleine eine logische Erklärung zusammenreimen. Sümpfe im Wald waren schließlich keine Seltenheit. ...oder?
Sie ließ sich von ihrem Bruder aufhelfen. Wortlos gingen sie zu der kleinen Lichtung und packten ihre Sachen zusammen. Dann machten sie sich auf den Heimweg.
Als sie aus dem Wald heraustraten und über die Wiesen liefen, wurde Lena sich plötzlich bewusst, was gerade überhaupt passiert war. Der Schock holte sie mit einem Mal wieder ein. Sie malte sich aus, was passiert wäre, wenn Julian sie nicht gefunden hätte. Jetzt, wo sie in Sicherheit war, kamen ihr plötzlich die Tränen. Sie schluchzte leise.
Julian blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
„Geht es dir gut?“, fragte er sorgenvoll und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Jetzt konnte sie die Tränen erst recht nicht mehr zurückhalten und fing hemmungslos an zu weinen. Sie klammerte sich verzweifelt an seinen Arm. Der Schock und die Erleichterung übermannten sie und die Tränen flossen unaufhaltsam.
Julian legte zaghaft eine Hand auf ihren Rücken und tätschelte sie. Es kam einer Umarmung sehr nahe, was Lena plötzlich ein Kichern entlockte. Julian umarmte sie nicht häufig, er zierte sich immer ein wenig. Weinend und kichernd zugleich schlang sie ihre Arme um ihn und heulte in sein T-Shirt. Minutenlang ließ sie ihn nicht los, bis ihre Tränen versiegten. Sie hob vorsichtig den Kopf und schaute in sein leicht irritiertes Gesicht. Sie umarmte ihn auch nicht oft. Wieder musste sie lachen.
„Danke, dass du mich gerettet hast.“
Julian grinste und schob sie vorsichtig wieder von sich.
„Wir gehen jetzt erst einmal nach hause und kochen uns etwas zu essen.“
Lena war sich sicher, dass er mit „wir“ eigentlich sie meinte, doch als sie zuhause ankamen, war das Essen bereits gemacht und stand auf dem Tisch bereit. Christina kam aus der Küche und begrüßte die beiden überschwänglich. Dann blieb ihr Blick an Lena hängen und sie zog die Augenbrauen in die Höhe.
„Was hast du denn gemacht, Kindchen? Du siehst aus, als hättest du dich im Dreck gewälzt.“
„Sie ist hingefallen.“, kam Julian ihr sofort zur Hilfe. Natürlich konnten sie ihrer Tante nicht erzählen, der Wald hätte sich in einen Sumpf verwandelt und versucht, Lena zu verschlucken.
„Es scheint ja ziemlich schlammig im Wald zu sein. Hast du dich verletzt?“ Lena schüttelte den Kopf. „Zieh dich erst einmal um und dann essen wir etwas. Ich habe Rouladen und Kartoffeln gemacht.“
Lena tat wie geheißen und wenige Minuten später saßen sie alle am Esstisch und genossen Christinas Kochkünste. Alles schien wieder normal zu sein, doch für Lena war es das nicht. Die Sache im Wald beschäftigte sie noch immer. Und da schien sie nicht die einzige zu sein. Immer wieder spürte sie Julians nachdenklichen Blick auf sich. Ahnte er, dass sie mehr über den Vorfall im Wald wusste, als sie zugegeben hatte?
Würde sie es ihm anvertrauen, wenn er sie danach fragte?
Voller ungeklärter Fragen ging sie am Abend erschöpft ins Bad um sich fertig zu machen. Als ihr Blick auf den breiten Spiegel über dem Waschbecken fiel, hielt sie erschrocken inne.
Fassungslos starrte sie ihr Spiegelbild an.
Ihre Haare waren beinahe vollkommen schwarz. Nur ein paar wenige blonde Strähnen deuteten noch auf ihre ursprüngliche Haarfarbe hin.
Jetzt konnte sie es nicht mehr verstecken. Was sollte sie tun?
Sie brauchte dringend Ilans Hilfe.
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Sooo... Ich hoffe, auch dieses Kapitel hat euch gefallen! :D Ich bedanke mich hiermit ganz herzlich bei euch für über 2200 Leser!! :D <3 Ihr seid die aller besten! :**
LG Zara <3
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...