Kapitel 5 - Morgendliche Peinlichkeiten

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Lena erwachte mit einem Gefühl der Gefestigtkeit. Ihr Leben lag seit Wochen in tausend Scherben auf dem Boden verteilt, doch zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, man könne diese Scherben wieder aufheben und zusammenkleben. Zum ersten Mal seit Langem gab es die Hoffnung auf Besserung. Selbst, wenn es jetzt noch nicht besser war. Sie war sich  sicher: Sobald sie dieses Haus verließ, würde alles wieder so sein wie vorher: Leer und dunkel. Aber dieses Mal wusste sie, dass sie es wieder beheben konnte. Sie musste nur noch herausfinden, wie…

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht richtete sie sich auf der Matratze auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Im Zimmer war es noch dunkel. Ilans Bett war leer. Sie wusste nicht, wie spät es war, aber wenn es zu spät gewesen wäre, hätte er sie schon geweckt. Vielleicht konnte sie ja noch ein bisschen träumen…

Sie legte sich wieder hin und zog die Decke bis an ihr Kinn. Mit den Fingerknöcheln klopfte sie ein wenig auf den harten Holzfußboden den Takt ihres Ohrwurms.

…die Welt hinter mir wird langsam klein, doch die Welt vor mir ist für mich gemacht…

Peter Fox spielte ununterbrochen in ihrem Kopf und Lena musste lächeln.

„Auch schon wach?“ Sie schielte über die Decke hinweg.

Ilan stand in der Tür. Er hatte sich bereits vollständig angezogen; seine Haare waren noch nass. Er rieb sie gerade mit einem Handtuch trocken.

Sein Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Das war wohl ein nicht zu lösendes Problem, aber eines, mit dem man leben konnte. Auf sein freches Grinsen hin nickte sie nur müde. Es war eindeutig noch zu früh für Sarkasmus. „Und ich dachte schon, du wolltest das Frühstück verschlafen. Willst du noch duschen?“ Erneutes Nicken, „Dann räume ich das Bad schnell frei.“

Er verschwand wieder aus ihrem Blickfeld. Lena gähnte einmal ausgiebig, dann fing sie an, ihre Sachen zusammen zu kramen. Bürste, Wäsche, Shampoo, Föhn…

Noch im Schlafanzug lief sie schließlich aus dem Zimmer, mit allen Sachen auf dem Arm. Ilan kam ihr mit seiner Wäsche entgegen. Im Flur grinste er sie breit an.

„Schicke Frisur.“, neckte er.

Sie streckte ihm die Zunge heraus und passte genau in diesem Moment nicht auf, wo sie hintrat. Schon stolperte sie über den schönen Baumwollteppich und konnte sich nur noch fangen, indem sie kräftig mit den Armen ruderte. Ihre Sachen fielen natürlich alle auf den Boden. Das muss ziemlich witzig ausgesehen haben. Ilan lachte lauthals los und Lena konnte sich ihr Grinsen auch nicht verkneifen.

„Soll ich dir helfen?“, bot Ilan an, der selber beide Arme mit Wäsche bepackt hatte.

Lena schaute auf ihr verstreutes Zeug. Meine Unterwäsche! Hastig schüttelte sie den Kopf und räumte alles wieder zusammen, als aller erstes den BH mit dem violetten Bärchen-Muster. Dann verschwand sie hoch rot mit allem ganz schnell im Badezimmer. Ilans Lachen hörte sie auch noch durch die geschlossene Tür.

Vor dem Spiegel sah sie dann, was er mit ihrer Frisur gemeint hatte. Alles war durcheinander. Ihre Haare schienen über Nacht ein Eigenleben entwickelt und dann gemeinsam ausgeklügelt zu haben, wie sie Lena wohl am besten ärgern konnten.

Lena seufzte laut. Heute blieb ihr aber auch keine Peinlichkeit erspart.

Nach dem Duschen brachte sie ihre Frisur so lange mit Bürste und Föhn dazu, normal auszusehen, bis sie halbwegs zufrieden war. Dann schminkte sie sich – nur ein bisschen, damit es nicht auffiel – und brachte die Sachen zurück zu den Taschen. Sie ging ins Erdgeschoss, wo sie Ilan und seine Eltern beim Tischdecken antraf.

„Guten Morgen!“, begrüßten sie sich alle gegenseitig. Lena holte fleißig fünf Messer aus einer der Schubladen und verteilte sie auf dem Tisch. Sie half Ilan, alle Marmeladengläser zu öffnen.

Dann erschien Ilans kleiner Bruder Moritz im Esszimmer. Er sah noch ganz verschlafen aus und seine blonden Haare waren fast so zerzaust wie ihre eigenem bis vor kurzem. Nur halb wach schaute er in die Runde. Seine großen Kinderaugen fingen an zu leuchten, als er Lena sah.

„Leni!“ Moritz strahlte und kam durch den Raum auf sie zu gelaufen, plötzlich frei von jeder Müdigkeit.

„Moritz!“ Sie nahm ihn auf den Arm und stöhnte überrascht auf. „Du bist aber ganz schön schwer geworden.“ Sie setzte sich mit dem kleinen Jungen auf einen Stuhl.

„Ich bin ja auch schon acht Jahre alt. In drei Monaten werde ich neun.“, erzählte der Kleine. „Guck mal!“ Er grinste mich über beide Backen hinweg an und deutete stolz auf die Zahnlücke, die er einem ausgefallenen Schneidezahn zu verdanken hatte. „Der ist gestern rausgefallen. Und der da wackelt auch schon.“ Zum Beweis tippte er an einen weiteren, der sich daraufhin ein Stückchen bewegte.

„Das ist ja großartig! Dann bekommst du ja bald richtige bleibende Zähne. Dann bist du schon ein großer Junge.“ Moritz strahlte überglücklich. Er mochte es, als >großer Junge< bezeichnet zu werden. Das hieß für ihn schon fast erwachsen. Lena setzte ihn wieder auf dem Boden ab. „Jetzt setz dich auf einen Stuhl und iss dein Brot, damit du auch ganz schnell wächst.“ Moritz nickte einhellig und lief zu seinem Platz.

Gemeinsam frühstückten sie in fröhlicher Stimmung. Die gesamte Atmosphäre war so familiär, dass Lena sich fast wie ein Teil der Familie fühlte. Die Gespräche waren entspannt. Es wurden Geschichten und komische Momente aus dem Alltag erzählt und Lena konnte mal wieder so richtig herzlich lachen. In diesem Haus war alles noch komplett. Niemand schien zu fehlen. Hier war die Welt noch in Ordnung.

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