Kapitel 54 - Aschgrau und Blutrot

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Kurze Zeit später saß Nell in eine Decke gehüllt auf Niels Sofa und schlürfte Tee. Sie trug eine Jogginghose und ein T-Shirt von ihm. Ihr schwarzes Kleid hing zum Trocknen über einer Sessellehne. Niel setzte sich zu ihr, ebenfalls eine Tasse Tee in der Hand.

„Geht es dir besser?“

Sie nickte, obwohl sie damit lediglich ihren äußeren Zustand meinte. Sie war im Trockenen und aufgewärmt. Innerlich jedoch war sie genauso aufgewühlt wie zuvor. Anstatt an Ilan, dachte sie nun immer mehr an ihre Mutter. Als sie noch gelebt hatte, war alles in bester Ordnung gewesen.

„Du warst bei der Beerdigung, oder?“

Wieder nickte sie nur und schlürfte einen weiteren Schluck Tee.

„Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst?“

Nell nickte wieder und stellte die Tasse ab.

Und dann erzählte sie ihm alles. Das Angebot, das ihr schon so viele Menschen gemacht hatten – Melina, Ilan… – Sie nahm es an und redete sich den ganzen, tiefen Schmerz von der Seele. In diesen wenigen Minuten erfuhr Niel vermutlich mehr über ihre Mutter als sonst irgendjemand auf dieser Welt. Sie erklärte ihm, wie sie gewesen war, was sie zusammen erlebt hatten und wie es sich angefühlt hatte, in ihrer Nähe zu sein.

Sie erzählte ihm auch, wie sie sich fühlte. Wie sehr sie ihre Mutter geliebt hatte und wie unglaublich stark sie sie nun vermisste. Wie oft sie sich wünschte, sie wäre wieder bei ihr.

Und das tat verdammt gut!                             

Es war nicht so, dass ihr Schmerz gänzlich verschwand, doch er wurde zumindest erträglich. Sie weinte ununterbrochen und mit jeder Träne, die auf Niels altes T-Shirt tropfte, wurde ihre Seele ein wenig leichter, bis sie nichts weiter als eine sanft schwebende Feder im Wind war.

Sie endete erst, als ihr wirklich nichts mehr einfiel, das sie noch erzählen konnte.

Niel hatte die ganze Zeit über stumm zugehört. Jetzt strich er ihr über das feuchte Haar und versprach ihr, dass alles wieder gut werden würde.

Und Nell glaubte ihm. Der Klang seiner beruhigenden Stimme ließ keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Worte aufkommen. Alles würde bald besser sein – da war sie sich ganz sicher.

„Du solltest vielleicht langsam nach hause gehen.“ Niels Stimme holte sie irgendwann in die Wirklichkeit zurück.

„Warum?“, murrte sie.

„Es ist fast acht.“

Eigentlich hätte sie das aufregen müssen. Sie hätte sich beeilen müssen, nach hause zu kommen. Doch sie nahm nur ihren Kopf aus seiner Armbeuge, wo sie ihn vergraben hatte, und sah ihn an.

„Ich bin schon über zwei Stunden hier?“, fragte sie verwirrt.

Niel nickte. „Soll ich dich nach hause fahren?“

Nell schüttelte den Kopf und legte ihn dahin zurück, wo er seit zwei Stunden ruhte. „Ich will hier bleiben“, murmelte sie in den warmen Stoff hinein.

Sie konnte hören, wie er schmunzelte. „Dann ruf wenigstens zuhause an, damit sich niemand Sorgen um dich macht.“

Mühsam hob sie den Kopf wieder an und schaute etwas irritiert zu ihm auf. „Ich darf bleiben?“

„Natürlich?“, äffte er ihren verwunderten Tonfall nach und musste grinsen.

Mit etwas Mühe erhob sie sich und ging zur Garderobe hinüber. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche, die am Haken hing und freute sich, dass es den Spaziergang durch den Regen heil überstanden hatte. Als das Display aufleuchtete, erinnerte sie sich an die SMS, die Julian ihr einmal geschrieben hatte und die sie so geärgert hatte.

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