Kapitel 46 - Wenn Worte sich verselbstständigen...

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Niel betrat das Zimmer und schaute seine kleine Schwester herausfordernd an, ein breites Grinsen auf den Lippen. „Ist er, ja?“ Dora errötete ein wenig und blieb stumm. Niel richtete seine Aufmerksamkeit auf Lena. „Papa hat gerade angerufen. Deine Familie macht sich Sorgen um dich. Ich soll dich nachhause bringen.“

Lena wollte antworten, doch in diesem Moment klingelte ihr Handy. Es war eine Nachricht von Ilan:

Komm schnell her! Es geht um das Buch – wichtig!

Ich erklär´s dir dann.

- Lan

 

Was war passiert? Vielleicht hatte er ihr Buch verloren? Oder beschädigt? Waren noch mehr Gestalten daraus aufgetaucht?

Egal, was es war: Es hörte sich dringend an. Sie sollte sich beeilen.

„Gut, dann fahren wir besser gleich los.“, antwortete sie auf Niels Frage und stand auf.

Er schien ein wenig irritiert, stand aber ebenfalls auf und folgte Lena aus dem Zimmer. Sie holte schnell ihre Sachen und zusammen gingen sie zu Niels Wagen. Doras sarkastisches „Fahrt schön vorsichtig“ überhörten sie beide grinsend.

Niel startete den Wagen und steuerte ihn aus der Einfahrt die Straße hinunter. Lena überlegte kurz, ob sie ihn bitten sollte, sie bei Ilan abzusetzen, entschied sich aber dagegen. Ihr fiel keine gute Ausrede ein. Abgesehen davon wollte sie ohnehin nicht mehr lügen.

Der Regen war zu einem leichten Tröpfeln abgeflaut. Die Scheibenwischer fuhren in regelmäßigen Abständen über das feuchte Glas. Lena beobachtete sie gedankenverloren und merkte dabei, wie müde sie der Tag gemacht hatte. Es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten.

„Wird deine Familie sauer sein, weil du erst so spät kommst?“, unterbrach Niels tiefe Stimme ihre Abwesenheit.

„Meine Familie besteht nur noch aus meinem Patenonkel und seiner Frau.“, stöhnte sie genervt.

Niel runzelte verwirrt die Stirn. „Wieso das?“

Lena seufzte. Eigentlich wollte sie es nicht erzählen, doch jetzt war es ihr vor lauter Selbstmitleid einmal herausgerutscht. Mit finsterem Gesichtsausdruck erklärte sie ihm kurz, was passiert war.

Niel war entsetzt. „Er ist einfach abgehauen? Jetzt?“

Nell nickte. Obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte, ihren Vater links liegen zu lassen und sich nicht weiter darum zu kümmern, merkte sie, wie ihr nun doch die Tränen kamen. Sie konnte sie gerade noch so zurück halten.

„Das kann er doch nicht machen! Seine Kinder nach dem Tod der Mutter ganz alleine zuhause lassen!“

„Nicht ganz alleine. Paul und Christina sind ja da.“

Er starrte sie nahezu ungläubig an. „Du verteidigst ihn auch noch?“

„Ich habe mich damit abgefunden.“

Niel schüttelte nur fassungslos den Kopf.

Den Rest der Fahrt sprachen sie nicht mehr. Lena kämpfte stumm mit den Tränen und schaffte es, sie zurückzuhalten. Niel starrte eisern geradeaus und konzentrierte sich mit grimmiger Miene auf den sonntäglichen Verkehr. Wenig später hielt er vor Nells Haus.

„Ich würde ja zu gerne mit reinkommen und denen die Meinung sagen.“, murmelte er.

„Bitte nicht. Die beiden können ja nichts dazu. Soweit ich weiß, hat meine Tante meinen Vater sogar schon zur Rede gestellt, als er noch hier war.“

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt