Wenig später saßen sie in Niels Wagen. Kein Augenblick verstrich, ehe er mit seinem Tadel begann.
„Sag mir nicht, du hast die letzten Schulstunden geschwänzt und dich stattdessen mit Ilan getroffen.“
Sein Tonfall war trotz des deutlichen Vorwurfs bedrohlich ruhig. Mit stechender Deutlichkeit traf er bei Nell auf einen wunden Nerv. Es war wie bei Ilan vor dem Geschäft. Jemand wollte ihr vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte und das konnte Nell – und vor allem Annell – auf den Tod nicht ausstehen.
Gereizt antwortete sie: „Das ist ja wohl meine Entscheidung. Ich hatte etwas Wichtiges mit Lan zu besprechen…“ Eine Tür klappte und ließ sie erschrocken herumfahren.
Dora saß auf dem Rücksitz, emotionslos geradeausstarrend. Ihr Anblick erschreckte sie zutiefst, hatte sie doch nicht einmal bemerkt, dass das Mädchen eingestiegen war. Für einen Moment schlich sich etwas Seltsames in ihr Blickfeld. Etwas an Doras Hand, das sich darum herum schlängelte, wie eine Ranke…
Bevor sie genauer hinsehen konnte, griff Niel das Gespräch wieder auf.
„Ich möchte nicht, dass du dich weiterhin mit ihm triffst.“ Er startete den Motor, sodass dieser wütend aufheulte.
Voller unfassbarer Empörung drehte sie sich wieder zu ihm herum. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte!
„Was geht dich das überhaupt an?!“
„Er liebt dich. Natürlich geht es mich etwas an, verdammt!“
Ein seltsam verkniffenes Schluchzen drang von der hinteren Bank zu ihnen. Schmerzhaft zog sich Nells Herz zusammen. War das Doras beinahe unterdrückte Reaktion auf Niels Worte gewesen? Dass Ilan sie liebte?
Ein furchtbar schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit. Dennoch war sie Niel gegenüber weiterhin hartnäckig.
„Lan ist mein bester Freund. Ich kann mich mit ihm treffen, wann immer ich will. Ich bin nicht dein Eigentum!“
Niel schwieg. Sie konnte seinen Kiefer mahlen hören und musste unwillkürlich an Aarons Worte denken. Aufgeblasen und herablassend. Und anscheinend nicht nur das! Wenn sie Niel jetzt genauer betrachtete, kamen ihr die Worte besitzergreifend und eifersüchtig besonders in den Sinn. Beinahe so wie Fliel…
Wie hatte es sein können, dass sie das nicht schon früher bemerkt hatte? Gab es das wirklich: blind vor Liebe sein? Langsam kam sie sich vor wie in einem melodramatischen Liebesroman. Mit der einzigen Ausnahme, dass sich alles so echt anfühlte…
Schließlich hielten sie am Haus der Melchings an. Niel zog sie ohne ein weiteres Wort zu sagen mit in den Garten. Dora wurde überhaupt nicht mehr beachtet. Sie verschwand im Haus, so rasch und leise wie der Wind.
Inzwischen war es kühler geworden. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne und eine leichte Brise frischte die Luft ein wenig auf. Das wechselhafte Aprilwetter war unberechenbar.
Hinter der Hausecke drehte Niel sich wieder zu ihr um. Sein Gesicht war ernst und ein wenig bedauernd. Seine Hand umschloss warm und fest die ihre.
„Ich will mich nicht mit dir streiten. Es ist nur alles gerade so… seltsam… Manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre nicht mehr ich selbst. Ich bin so ein Idiot…“
„Nein“, korrigierte sie ihn entschieden. „Du kannst nichts dazu. Wenn überhaupt, dann bin ich…“ Hätte sie dieses Buch doch bloß nicht geschrieben! Wäre das alles niemals passiert!
Sie unterdrückte ein Schluchzen. Niel merkte, dass sie nicht weitersprechen würde und zog sie noch ein wenig weiter, bis zum Wohnwagen. Von weitem konnte Nell etwas davor erkennen: Einen Tisch und zwei Stühle. Über die Platte des Campingtisches war eine rote Decke gehängt worden. Eine Kerze stand in der Mitte und zwei Teller mit Besteck…
DU LIEST GERADE
Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...