Mit einem Mal war Fliel über ihr.
Jetzt war es so weit. Er würde sie die Klippen hinunter stoßen. Dann wäre es vorbei.
Seine Hand holte zum Schlag aus.
„Warte!“, rief sie.
Zu ihrer Überraschung hielt er tatsächlich inne. Er grinste höhnisch. Annell überlegte, was sie sagen könnte, was ihr Leben noch retten konnte.
Ihr fiel nur eine Sache ein.
„Du kannst mich nicht töten.“
Man konnte ihm die Genugtuung, dass sie um ihr Leben bettelte, deutlich ansehen. „Warum sollte ich das nicht können?“
Jetzt war es ihr egal, was sie ihm erzählte – selbst, wenn sie sich geschworen hatte, es nicht zu tun. Ihre Stimme war zittrig und schwach.
„Weil ich deine Schwester bin…“
* * * * * * * * * * * *
Oh Gott, was habe ich getan!
Nell saß im Religionsunterricht, leichenblass und zu tiefst geschockt. Sie wusste genau, dass in diesem Moment eine unsichtbare Hand vernichtende Wörter auf die leeren Seiten des Buches in ihrer Tasche schrieb.
Während des langweiligen Unterrichtsthemas waren ihre Gedanken abgeschweift und schließlich ganz unvermutet bei ihrer Geschichte gelandet. Natürlich hatten sie sofort angefangen, ihren Verlauf weiterzuführen. Doch warum müssen sie es unbedingt so weitergehen lassen? Konnte sie sich keine positiven Gedanken über ihre Geschichte machen?
Wenn Aaron jetzt starb… Was passiert mit Ilan??
Wie soll ich es mir nur jemals verzeihen, wenn ihm etwas zustößt?
Ihr Religionslehrer erzählte weiter etwas über die selbstlose Aufopferung Jesu. Kein Wunder, dass sie gerade bei diesem Thema Aaron dazu gebracht hatte, sich für Annell zu opfern. Und das aus Liebe!
Doch es war jetzt nicht mehr zu ändern. Was einmal in dem Tagebuch stand, konnte nicht mehr aufgehoben werden. Sie konnte sich noch so viele Gedanken machen – es würde sich nichts ändern.
Oder doch…?
Innerlich kämpfte sie darum, nicht auf andere Gedanken zu kommen, solche, die Aaron sterben lassen könnten. Stattdessen versuchte sie krampfhaft, sich ein glückliches Ende auszudenken. Eines, bei dem sowohl Aaron als auch Fliel und schlussendlich auch sie selbst unverletzt blieben.
Doch ihr wollte einfach keines einfallen. Alle möglichen positiven Enden waren so unglaubwürdig, dass sie es nicht Wert waren, in einer Geschichte zu stehen. Natürlich hätte sie sagen können, dass er von einer unbekannten Macht gerettet wurde, Niel ganz plötzlich wieder nett zu ihnen war und sie alle bis an das Ende ihrer Tage glücklich miteinander lebten.
Doch so funktionierte das nicht.
Nell hatte es schon häufig ausprobiert, Enden zu finden, mit denen sie selber niemals einverstanden gewesen wäre. Doch keiner von diesen unglaubwürdigen Gedanken wollte sich in das Tagebuch schreiben.
Es war sogar noch erschreckender: Schrieb sie ein solches Ende in das Buch, verblasste die Schrift nach einiger Zeit und alles blieb beim Alten. Das Buch duldete nur Handlungsstränge, mit denen sie selbst einverstanden war. Sie konnte nicht gegen die Geschichte arbeiten – doch vielleicht konnte sie mit ihr kooperieren.
Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, sie alle da wieder heil herauszubringen. Als sie sich schlussendlich eingestehen musste, dass ihr nichts Passendes einfiel, konzentrierte sie sich wieder auf den Unterricht und hoffte, ihr würden später mehr Ideen kommen. Bis dahin durfte sie ihre Gedanken nicht mehr abschweifen lassen. Die Handlung stand auf Messers Schneide. Ein falscher Gedanke konnte ganz schnell dafür sorgen, dass es ein unschönes Ende mit ihnen allen nahm.
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...