Kapitel 52 - Der erzwungene Aufbruch

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Wie eine Kämpferin, die sie nun einmal war, richtete Annell sich mühsam wieder vom Boden auf. Dabei ignorierte sie geflissentlich Aarons ausgestreckte Hand, die ihr Hilfe anbot. Mit ernstem Blick sah sie sich in der Gaststube um. Zwei Tische waren umgekippt. Stühle lagen kreuz und quer verteilt und überall bedeckten Scherben den Boden. Etwas Blut klebte an den Dielen, dort wo Aaron Fliel zu Boden geschlagen hatte.

Es war ein Schlachtfeld.

„Du bist keine richtige Seherin, oder?“ Während er das fragte, riss er einen Streifen Stoff von seiner Kleidung ab. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach ihrem Handgelenk und wickelte den provisorischen Verband fest um die Schnittwunde.

„Nein“, bestätigte sie seine Vermutung. Mehr als die Tatsache, dass er ihr half, obwohl er nicht genau wusste, was sie war, verwunderte sie die Gelassenheit, mit der er ihr die Frage stellte. Als sei es ihm im Grunde gleichgültig.

Aaron war fertig mit dem notdürftigen Verbinden ihrer Wunde. Er deutete mit dem Kopf auf die Tür, die aus der Gaststätte führte. „Gehen wir?“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Wir warten auf Fliel.“

„Ich dachte, die Aufgabe wäre bloß eine Ablenkung gewesen.“

Wieder verneinte Annell und seufzte tief. „Wir brauchen ihn, um zum König zu kommen.“

„Bist du dir da sicher? Es könnte gefährlich werden…“

„Er ist sein Sohn. Eine bessere Gelegenheit bekommen wir nicht wieder. Außerdem werden uns die Menschen dort draußen zerreißen, wenn wir ohne Begleitung in Granata herumlaufen. Hast du das Misstrauen gesehen?“

Das hatte er natürlich. Die Menschen in Granata schienen Rubierner nicht nur abgrundtief zu hassen, sie hatten auch unglaubliche Angst vor ihnen. Annell fragte sich, was die Regenten ihrem Volk über das feindliche Land erzählten.

„Also willst du weiter die boshafte Hexe spielen?“ Annell nickte. Aaron schmunzelte ein wenig. „Dann musst du aber noch gefährlicher aussehen.“

Mit dem Ärmel wischte er über ihre Wange. Blut, erkannte Annell. Ist das meines? Dann fuhr er durch ihre Haare und zerzauste sie so gut es auf die Schnelle ging.

Die Kriegerin konnte die Zuneigung erkennen, die er ihr entgegenbrachte. Sie spiegelte sich in seinem Blick und in jeder seiner Bewegungen wider.

Doch sie empfand nicht dieselben Gefühle für ihn. Das wusste er. Vielleicht war es dieses Wissen, das ihm ein trauriges Lächeln auf die Lippen zauberte.

Zum Glück war Aaron klug genug, die Tatsachen zu akzeptieren. „Sei unbarmherzig und halte die verletzte Hand versteckt.“, wies er sie an, als sie Schritte vom Gang hörten. Es waren die eines einzelnen Mannes. Sofort schnellte Annells Kopf empor und ihre Schultern strafften sich, obwohl sie gerade noch zu Tode erschöpft gewirkt hatte. Sie setzte eine ausdruckslose Miene auf und ließ ihre linke Hand ein Stück weit hinter sich gleiten.

Zu ihrem Erstaunen war es tatsächlich Fliel, der durch die Tür schlüpfte und den beiden misstrauisch entgegentrat. Er hielt Aaron sein Messer hin, sowie Annells Schwert, den Bogen und die Pfeile. Selber behielt er nur sein eigenes Schwert. Es war offensichtlich, dass er der Hexe nicht zu nahe kommen wollte. Aaron überreichte Annell ihre Waffen und stellte sich dann stumm und ein wenig unterwürfig neben sie. Er spielte also den demütigen Diener – das war gut. Es machte das Schauspiel umso glaubhafter.

Beinahe fand Annell Gefallen an der Situation. Mit ihrer rechten Hand wies sie auf den Ausgang. „Du wirst uns zu deinem König bringen und uns eine Audienz verschaffen.“

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