Kapitel 53 - Wahr gewordene Vision

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Der Pastor hatte gerade das letzte Gebet beendet. Nell hatte nicht einmal zugehört. Sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen.

Schweigend starrte sie in die Menge. Überall ernste Gesichter. Hier und da vereinzelte Tränen.

Die Trauergemeinschaft war ausschließlich in schwarz gekleidet. Passend zum Anlass fiel kühler Regen vom Himmel. Dunkle Regenschirme waren aufgespannt. Tropfen prasselten in einem dumpfen Rauschen auf sie nieder und legten einen trüben Schleier der Stille über die Anwesenden.

Nell erkannte Ilans Mutter am Rande der Gemeinschaft. Ihr bleiches Gesicht stach aus dem Schwarz ihrer Kleidung und ihrem Haar hervor. Es wirkte wie das eines Gespenstes. Ihre Augen waren rot umrandet – sie musste die letzten Tage durchgängig geweint haben.

Ilan stand neben ihr. Auch er war blass. Sein Gesichtsausdruck war ernst und abwesend.

Nach und nach begaben sich nun alle zu dem offenen Grab, in das vor wenigen Minuten der schwere Eichensarg gesunken war. Der Grabstein stand bereits dahinter. Groß, grau und endgültig. Nell las zum wiederholten Mal die Inschrift.

Ruhe in Frieden – Emma Spelzig

Auf dem Weg hierher waren sie am Grab ihrer Mutter vorbeigekommen. Nell hatte ihren Blick gezwungen, auf dem Boden zu bleiben und ja nicht hinüberzuschauen. Es hätte ihr das Herz ein zweites Mal herausgerissen, den Grabstein mit dem Namen ihrer Mutter darauf zu sehen. Es war schlimm genug, ein weiteres Mal hier zu sein.

Wieder musste sie die Tränen zurückdrängen. Sie hatte diese alte Frau sehr gemocht. Immer war sie freundlich zu ihr gewesen, hatte ihr Kekse gebacken und zu ihrer Konfirmation ihre Haare geflochten. Als wäre sie tatsächlich da, erschien das Gesicht der alten, beinahe blinden Dame vor ihrem inneren Auge. Wie genau es ihr in Erinnerung geblieben war! Diese verblassten, blauen Augen in dem gutmütigen Gesicht…

Nell reihte sich in eine Schlange aus Gästen ein, die Blumen in das Grab warfen. Sie lagen in einem Korb, aus dem sich jeder Anwesende eine Pflanze nehmen konnte.

Nell zog sich eine weiße heraus und betrachtete sie abwesend. Eine Nelke.

Welche Ironie!

Beinahe hätte sie die Blume, die ihrem unerwünschten Beinahmen so sehr glich, zurückgeschmissen und sich eine neue gegriffen, doch sie hielt sich zurück. Auf einer Beerdigung wäre es vermutlich eher unpassend gewesen, so zu reagieren.

Nell beschloss, mit der Nelke Abschied zu nehmen. Sie stand für Liebe und Freundschaft, war also eine Blume, die gut zu dem passte, was sie empfand. Genau wie Nell ließ das Blümchen traurig den Kopf hängen.

Das Mädchen schritt weiter zum Grab. Ohne ein Wort zu sagen, starrte sie in die Tiefe, in der am Boden das dunkle Holz des Sarges zu erkennen war. Sie sprach nicht laut aus, was sie dachte, sondern erzählte der Verstorbenen in Gedanken, was sie ihr noch mitteilen wollte. Dann ließ sie die Nelke fallen, sodass sie mit einem leisen Patsch bei den anderen Blumen landete.

Jemand stellte sich neben sie. Nell hörte ein geflüstertes „Ruhe in Frieden“, dann das Geräusch einer weiteren fallenden Blume. Die blaue Blüte landete neben ihrer weißen Nelke. Sie blickte sich zu Ilan um, der das Vergissmeinnicht geworfen hatte und genauso wie sie zuvor einfach nur in die Tiefe starrte und schwieg.

Ein Anflug von Melancholie erfasste sie.

Nell ging weiter, um anderen Gästen für ihren Abschied Platz zu machen. Stumm warf sie noch einen letzten Blick auf den Grabstein.

Ruhe in Frieden – Emma Spelzig

Mit einem Mal fühlte Nell sich schwach. Sie merkte wieder einmal, wie präsent der Tod war und wie unerwartet und ungebeten er in das Leben treten und einen von ihnen mit sich reißen konnte. Mit Bitterkeit im Herzen strebte sie auf das breite Tor zu, das aus dem Friedhof hinausführte. Sie konnte nicht länger dort bleiben, in der erdrückenden Stille.

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