„Was hast du vor?“, verlangte er zu wissen. Er war ein wenig angetrunken, jedoch noch weitaus nüchterner als seine Kumpane. Annell hätte ihn als gerade noch zurechnungsfähig beschrieben.
„Ich möchte mich ausruhen – es war ein langer Tag.“
Er stutzte. „Du wolltest nicht fliehen?“, fragte er misstrauisch.
Annell zuckte mit den Schultern. „Wozu? Ich entkomme ohnehin nicht.“
Der Prinz schien sich nicht sicher zu sein, was er darauf antworten sollte. Nach einiger Zeit des Schweigens, trat er einige Schritte auf sie zu. Er senkte die Stimme. „Weißt du, was ich vorhin mit dem Fürsten besprochen habe?“
Annell schüttelte ahnungslos den Kopf. Sie konnte nur raten. „Kriegsbesprechungen? Soldatenhandel?“
Der Prinz verneinte. „Ich habe eure Hinrichtung hinausgezögert. Die Gerichtsverhandlung sollte ursprünglich schon morgen sein – und zwar hier in Gelexis. Ich konnte sie nach Graz verlegen. Das hat mich ein ganz schönes Sümmchen gekostet. Der Fürst wollte durch den Prozess an Ansehen gewinnen.“
Annell runzelte die Stirn. Graz war die Hauptstadt von Granata und somit auch der Königssitz. Wenn sie dort irgendwie Kontakt mit dem Herrscher aufnehmen könnte, wäre sie einen großen Schritt vorangekommen.
Doch warum half Fliel ihnen? Was versprach er sich von der Verzögerung ihres Todes?
Misstrauisch beobachtete sie ihn. Hier, im schäbigen Gasthauszimmer, sah gar nicht aus wie ein richtiger Prinz. Er trug robuste Reisekleidung, seine blonden Haare waren zerzaust und er wirkte erschöpft von der langen Reise. Dazu kam der schwere Geruch von Alkohol, der an ihm haftete. Er glich seinen eigenen Soldaten stärker, als er vielleicht wollte.
Seine Stimme klang zwar bestimmt, jedoch auch ein wenig rau. „Wenn du es schaffst, mich bis dahin von deiner Geschichte zu überzeugen, verschaffe ich dir eine offizielle Audienz beim König.“
Also hatte sie ihn doch zum Nachdenken gebracht!
Annell schöpfte wieder neue Hoffnung. Mit etwas Glück schaffte sie es, ihn zu überzeugen. Dann würde sie vielleicht endlich die Antworten bekommen, die sie so dringend benötigte. Wenn das ihren Tod voraussetzte, würde sie den hohen Preis dafür bezahlen.
Der Gedanke hatte ein Gefühl des Endgültigen an sich, das Annell auf erschreckende Weise gefiel. Es schien ihr, als würde ihr Lebenszweck dadurch erfüllt werden. Obwohl ihr wirklicher Lebenszweck - ihre Suche - nicht erfüllt werden würde. Doch das war ihr in diesem Moment gleich.
Sie wies Fliel an, sich zu setzen, sammelte sich und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
* * * * * * * *
Das sonntägliche Wetter war miserabel.
Feucht und neblig. Die anwachsende Weide vor Lenas Fenster ließ einzelne Wassertropfen sanft auf das bemooste Dach tropfen. Von dort aus perlten sie in die rostige Regenrinne, welche sie dankend aufnahm und in ihrem flachen Bett sammelte. Durch ein Rohr floss das Wasser in eine alte Regentonne, die ihr Vater einst aufgestellt hatte. Die so aufgefangene Pfütze wurde von niemandem mehr genutzt, abgesehen von einer Armee quirliger Mückenlarven, die sich freudig darin tummelte.
Lena stand seit dem Erwachen am Fenster und starrte gedankenversunken auf die tröpfelnde Weide und den nicht abziehen wollenden Nebel, der im sanften Windhauch bewegt durch den Garten floss. Sie mochte den Regen. Er half durch sein beruhigendes Trommeln beim Einschlummern und sein Geruch war rein und guttuend.
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Ficção Adolescente„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...