Kapitel 20 - Schwarze Ausblicke

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Drinnen war es kühl. Der inzwischen gewohnte, saubere Geruch umfing sie, zusammen mit der beruhigenden Musik, die immer im Vorraum gespielt wurde. An der Kasse empfing sie Frau Groß.

„Hallo, Lena. Frau Engel hat gleich Zeit für dich. Setz dich doch solange ins Wartezimmer.“

Lena machte eine Grimasse. „Darf ich auch hier warten?“

Frau Groß nickte großzügig und Lena setzte sich mit ihrer Tasche auf den einzigen Stuhl im Raum. Hier war es eindeutig weniger unheimlich als in dem stillen Wartezimmer nebenan. In einer Ecke stand ein grüner Farn. Ein großes Fenster prangte darüber und ließ den Blick auf einen gepflegten Garten zu.

Frau Engel hatte dieses Mal tatsächlich gleich Zeit für sie. Lena hatte gerade einmal zwei Minuten gesessen, da kam auch schon ein Patient aus dem Behandlungszimmer. Er sah recht zufrieden aus und strebte sofort dem Ausgang zu. Frau Engel sah ihm nachdenklich hinterher. Als sie Lena sah, lächelte sie.

„Hallo, Lena. Wie geht es dir?“ Sie bat sie in den gemütlichen Raum. Dann schloss sie die schalldichte Tür hinter ihnen.

„Ich denke, besser.“, antwortete sie und setzte sich.

Das Gespräch verlief wie immer. Lena erzählte ihrer Psychologin alles, was in den letzten Tagen passiert war und diese fragte sie dann, wie sie sich dabei gefühlt hatte. Lena erzählte von dem Nachrichten Schreiben mit San und der Autofahrt mit Julian.

„Das hat sicher Spaß gemacht, oder?“, fragte sie Frau Engel daraufhin.

Lena stutzte. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Sie musste auf einmal wieder an ihre Mutter denken und daran, wie sie früher immer mitgefahren war, als Julian noch siebzehn gewesen war. Er durfte damals noch nicht alleine fahren. Das Ja, das sie gerade noch sagen wollte, blieb ihr im Halse stecken.

„Ich weiß nicht…“

„Du weißt nicht, ob es Spaß gemacht hat?“ Sie schmunzelte ein wenig.

Lena musste sich sehr anstrengen, um zu erklären, was sie fühlte.

„Es fühlt sich… irgendwie… falsch an.“ Sie atmete tief ein. „Mama konnte nicht dabei sein.“

„Ah, jetzt verstehe ich.“, sagte Doktor Engel. „Das ist gar nicht selten in solchen Situationen. Du fühlst dich schuldig, weil du Freude in deinem Leben hast, die deine Mutter nicht mehr haben kann. Deshalb hinderst du dich selber daran, deinen Spaß zu haben.“

Lena starrte sie an. Das war genau das, was sie fühlte – nur eben besser ausgedrückt.

„Das ist ganz normal.“, beruhigte die Psychologin sie. „Du musst die Sache so sehen: Deine Mutter ist in schönen Momenten immer bei dir, wenn du an sie denkst. Sie hat dich sehr geliebt und möchte, dass du glücklich bist. Du solltest deiner Mutter zur Liebe wieder Freude an deinem Leben haben. Du lebst jetzt für deine Mutter mit.“

Lena legte den Kopf schräg. So hatte sie das noch gar nicht betrachtet. Sie nickte nachdenklich.

Am Abend fiel Lena völlig erledigt ins Bett. Während des Tages war so viel los gewesen, dass sie gar keine Zeit gehabt hatte, müde zu sein. Doch jetzt spürte sie ihren Schlafmangel deutlich. Zum ersten Mal seit langem brauchte sie sich nur in ihre gemütliche Decke zu kuscheln und schon schlief sie ein. Ihr Schlaf war lang und traumlos.

Der Wecker klingelte sie um sieben Uhr aus dem Bett. Noch ganz verschlafen stellte sie ihn aus und stand gähnend auf. Den Gang durch ihr Zimmer nahm sie kaum war. Sie war noch im Halbschlaf.

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