Kapitel 9 - Ein Engel der Erinnerung...

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Der Raum war in ähnlichen Farben gestrichen wie das Wartezimmer. An den Seiten wuchsen diverse Pflanzen. In der Mitte standen zwei bequem aussehende Sessel einander gegenüber.

Doktor Engel war eine schlanke Frau Mitte dreißig. Sie hatte ihre kaffeebraunen Haare hochgesteckt. Auf den Wimpern trug sie ein bisschen zu viel Mascara. Lena hatte sie sich in weißem Kittel vorgestellt, doch sie war ganz normal gekleidet. Sie trug eine schlichte Jeans und eine Bluse. Die Ärztin lächelte freundlich, als Lena etwas unsicher eintrat.

„Bist du Lena? Hallo. Schön, dich kennen zu lernen.“, begrüßte sie sie freundlich und wies auf den Sessel ihr gegenüber. Lena grüßte knapp zurück und setzte sich. Ihre Tasche behielt sie in der Hand „Ich bin Tatjana. Deine Tante hat mir schon ein wenig über dich erzählt.“

Lena war sich sicher, dass sie mit „ein wenig“ eigentlich eine ganze Menge meinte.

„Willst du mir erzählen, warum du hier bist?“, fragte die Frau weiter.

Lena runzelte die Stirn. Sie war sich sicher, dass Frau Engel genau wusste, warum sie hier war. Wahrscheinlich war das so eine typisch psychologische Frage, mit der sie herausfinden wollte, ob Lena es selber wusste, oder so.

„Meine Mutter ist gestorben und Tante Christina macht sich Sorgen, dass ich nicht darüber hinweg komme.“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie nahm sich vor, mit der Frau so gut es ging zu kooperieren. Und wenn auch nur, weil sie es Ilan versprochen hatte.

„Ich verstehe. Denkst du denn selber, dass du darüber hinwegkommst?“

Wieder so eine Psycho-Frage.

„Ich denke, eigentlich schon.“, sie war ein wenig verunsichert. Die Psychologin nickte und lächelte noch freundlicher als zuvor.

„Erzähl mir von deiner Mutter.“

Wumm! Die Frage kam mal direkt.

Lena begann zögerlich zu erzählen. Ihr Bericht fiel stockend aus, mit Angaben, die man auch auf dem Personalausweis ihrer Mutter gefunden hätte. Dann wusste sie nicht mehr weiter. Als der Psychologin das auffiel, fing sie an, einfache Fragen zu stellen.

„Was war ihre Haarfarbe?“

Kastanienbraun. Lena hatte das sogar einmal mit einer echten Kastanie verglichen. Es traf den Ton perfekt.

„Was war ihr Lieblingsessen?“

Das war einfach. Waffeln. Jeden Winter hatte das Haus nur so von dem Waffelteig geduftet, wenn ihre Mutter mit dem Backen angefangen hatte.

„Was war sie von Beruf?“

Lenas Mutter war Kinderbuchautorin gewesen. Sie hatte die Bilder dazu meistens selber entworfen und von einem Bekannten professionell zeichnen lassen. Als Kind hatten ihre Eltern ihr immer aus diesen Büchern vorgelesen. Später hatte Lena ihrer Mutter bei einigen geholfen.

Lena erzählte alles so detailliert wie sie konnte.

„Was war der schönste Moment mit deiner Mutter?“

Darüber musste Lena eine Weile nachdenken. Sie kam nicht sofort darauf, aber dann wurde es ihr klar. Es gab sogar eine ganze Reihe von schönen Momenten.

„Vor etwa zwei Jahren haben wir damit angefangen, uns nach jedem Streit wieder zu versöhnen, indem wir uns gegenseitig ins Café einluden. Spätestens eine Stunde nach dem Streit haben wir uns dann bei einer Tasse Kakao wieder verziehen. Sie konnte mir nie lange böse sein.“

Sie wollte eigentlich nicht weinen, aber bei ihrem letzten Satz rollten die Tränen plötzlich von alleine. Doktor Engel hatte sofort Taschentücher parat. Nachdem sich Lena einmal richtig ausgeheult hatte, erklärte Doktor Engel:

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt