Kapitel 14 - Eine alte Bekanntschaft

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„Du wirst nicht sterben.“, flüsterte er, während er mit den Fingern ihre gefrorenen Wangen wärmte. „Nicht heute Nacht.“

Lena ließ den Stift fallen und fing an zu heulen. Liebeskummer tat ja so verdammt weh.

Sie hatte sich als Koexistenz eine zweite Welt in ihrem Tagebuch aufgebaut. Eine, in der alles genau so war, wie sie es sich wünschte. Annell war eine echte Kriegerin. Sie sagte, was sie dachte, war nicht auf den Mund gefallen. Sie sah aus wie ein Topmodel: schlank, mit pechschwarzen Haaren und saphirblauen Augen. Sie war einfach perfekt.

Aber was das wichtigste war: Sie hatte Ilan – oder besser gesagt Aaron.

Annell hatte zwar auch kein besonders leichtes Leben, aber sie hatte ihre große Liebe, die sie nie verlassen würde. Lena hätte sofort mit ihr die Rolle getauscht, wenn sie gekonnt hätte.

Nachdem sie sich richtig ausgeheult hatte, sah sie sich in ihrem Zimmer um, in dem es schon wieder zwanghaft aufgeräumt aussah. Lena konnte nicht anders. Wenn sie gestresst war, musste sie dafür sorgen, dass die – nicht mehr vorhandene – Unordnung verschwand.

Ihr tränenverschleierter Blick fiel auf ihren Wecker. 03:17 Uhr stand in großen, leuchtenden Lettern darauf.

Sie müsste eigentlich schon lange am Schlafen sein. Aber es ging nicht. Viermal hatte sie nun schon in ihrem Bett gelegen aber jedes Mal waren binnen weniger Sekunden die quälenden Gedanken zurückgekehrt und hatten sie vom Schlafen abgehalten. Dann war sie wieder aufgestanden und hatte sich etwas gesucht, mit dem sie sich ablenken konnte. Sie hatte also sehr gründlich aufgeräumt.

Doktor Engel hatte ihr bei ihrem letzten Termin erzählt, Schlafstörungen seien eine Mögliche Reaktion auf Stress oder Trauer. In diesem Fall traf vermutlich beides zu. Wenigstens wusste Lena jetzt, woran es lag.

Das änderte allerdings nichts daran, dass es bereits Montag war und Lena völlig übermüdet in die Schule kommen würde. Sie hatte schon daran gedacht, einfach zu schwänzen, doch alleine in ihrem Zimmer war die Trauer meistens sogar noch stärker als in Gesellschaft. Deshalb konnte sie es kaum erwarten, endlich in die Schule zu kommen.

Seufzend trat sie ans Fenster und beobachtete die stille, von Laternen gesäumte Straße. Das war ein beruhigender Anblick, denn er war noch immer so wie früher, auch wenn sich in Lenas Leben gerade so viel veränderte. Sie lehnte ihre Stirn an die kalte Scheibe.

Christina und Paul waren am Sonntag wieder gefahren. Ohne sie fühlte sich das Haus jetzt sogar noch leerer an als zuvor. Lena hätte nicht gedacht, dass sie die beiden so sehr vermissen würde.

Weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte, zückte sie ihr Handy. Es gab keine ungelesene Nachricht. Lena brauchte jetzt aber dringend den Kontakt zur Außenwelt. Ohne darüber nachzudenken, schrieb sie eine SMS an Sahra-Ann.

Sahra-Ann war ihre beste Freundin, die vor einem halben Jahr weggezogen war. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Lena vermisste ihre Freundin. Das Leben war viel schwerer, seit sie nicht mehr da war. In der Schule war Lena viel zu oft alleine. Außer Ilan gab es niemanden mehr, mit dem sie wirklich befreundet war. Höchstens ein paar Bekanntschaften, sonst nichts. Lena war einfach zu schüchtern, um sich fremden Leuten vorzustellen. Ilan war ziemlich häufig mit seiner Clique unterwegs, dann hatte er keine Zeit für sie. Sich zu seiner Clique dazuzustellen, traute Lena sich auch nicht. Was würden die anderen über sie sagen, wenn sie einfach ungebeten dazu kam?

Sahra-Ann hatte ein kaum zu schließendes Loch in ihrem Leben hinterlassen. Sie sahen sich überhaupt nicht mehr und trotzdem gingen ihre beiden Leben weiter. Lena vermisste San, wie sie sie manchmal liebevoll nannte. Als sie noch da war, waren sie das Trio schlechthin gewesen: Nur San, Lan und sie…

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