Lena seufzte und ging hoch in ihr Zimmer. Eine ganze Weile saß sie nur am Schreibtisch über ihrem Tagebuch und schaffte es nicht, auch nur eine Zeile zu schreiben. Die Stille machte sie fertig. Sie konnte sich nicht konzentrieren, starrte nur vor sich hin. Ihr Kopf war leer, doch sie fühlte noch etwas:
Einsamkeit. Wut. Unerträgliche Stille.
Wie gern wäre sie jetzt bei Ilan.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob sie sich und ging ins Bad. Sie duschte und kämmte sich, zog sich an und packte dann ihre Sachen. Sie dachte nicht darüber nach, tat es einfach. Als sie fertig war, schaute sie auf die Uhr. Es war kurz vor elf.
Lena rannte aus dem Haus und ging in Richtung Schule. Ihre Beine waren schwer und ihre Augen müde, doch sie gestattete es sich nicht, auszuruhen oder umzudrehen. Sie würde diesen Schultag zu Ende bringen, wenn sie ihn auch schon nicht richtig angefangen hatte.
Die vierte Stunde war bereits im vollen Gange. Lena platzte mitten hinein und erntete dafür erstaunte Blicke von ihren Mitschülern. Frau Mehlmann sah auch ein wenig verwundert aus. So ein Verhalten war sie von Lena nicht gewohnt.
Lena murmelte eine Entschuldigung und setzte sich auf ihren Platz. Ilan sah sie entgeistert an.
„Was machst du denn hier?“, fragte er.
„Ich hab es nicht mehr ausgehalten.“, flüsterte sie zurück. Sie packte ihre Sachen aus und legte sie auf den Tisch. Ilan ließ nicht locker.
„Warum bist du nicht zu hause? Du solltest dich ausruhen. Du siehst furchtbar aus…“
„Ilan!“, unterbrach Frau Mehlmann ihn. „Passen Sie doch bitte auf.“
Ilan verstummte. Lena konnte seinen Blick auf ihr spüren, doch sie ignorierte ihn und konzentrierte sich auf den Unterricht. Oder zumindest tat sie so. Konzentrieren konnte sie sich nicht wirklich. Sie sah nur ihrer Mathematik-Lehrerin dabei zu, wie sie scheinbar willkürliche Zahlen und Buchstaben an die Tafel zeichnete. Nach dem Unterricht hätte sie nicht einmal sagen können, was das Thema gewesen war.
Ilan befragte sie in der Pause weiter. Lena konnte ihm nicht erklären, weshalb sie doch noch in die Schule gekommen war. Aber sie wollte auch nicht wieder zurück, so viel stand fest. Die Stille würde sie wahnsinnig machen.
Lena erzählte Ilan von ihrem Vater, dass er jetzt in Ägypten war und sich einen Dreck um seine Familie scherte. Ilan leistete ihr seelischen Beistand. Es tat wie immer gut, ihn an ihrer Seite zu haben. Auf dem Pausenhof traf auch Sandora zu ihnen dazu und sie weihten sie ebenfalls ein. Lena war überrascht, wie sehr sie dem eigentlich fremden Mädchen schon vertraute. Sandora war schockiert über die Verhältnisse, die bei Lena zuhause herrschten. Obwohl Lena jetzt doch in der Schule war, versprachen ihre Freunde, sie später zu besuchen. Lena war unglaublich dankbar dafür.
Als nächstes hatte sie Physik. Sie setzte sich still auf ihren Platz. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh über den Lärm, den ihr Kurs verursachte. Sie konzentrierte sich darauf, nicht wieder in Melancholie zu verfallen.
„Hallo, Lena! Geht es dir gut?“
Sie sah auf. Wieder war es Niel, der direkt vor ihr stand und sie ein wenig besorgt musterte. Sie musste lächeln.
„Hi, es geht so…“
Niel kam um den Tisch herum und setzte sich neben sie. Dann musterte er sie aus seinen blauen Augen.
„Du siehst ganz schön fertig aus… Warum warst du heute Morgen nicht in Geschichte?“
Sie stöhnte. „Weil ich ganz schön fertig bin!“
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...