Kapitel 24 - Wirre Träume

239 14 5
                                    

Annell zerrte wütend an ihrem rechten Stiefel. Der sumpfige Boden, in den sie eingesunken war, wollte ihn nicht mehr freigeben, so sehr sie sich auch bemühte. Sie fluchte und zappelte wild, um ihn zu befreien. Es war gerade kein Baum in ihrer Reichweite, obwohl sie sich in einem Wald befanden. Die knorrigen Dinger standen nur unnütz am Rand des Sumpfloches, in das sie getreten war. Kein rettender Ast zu erwarten.

Sie zog weiter. Langsam begann auch ihr zweiter Fuß, einzusinken. Annell war außer sich vor Wut.

„Soll ich dir helfen?“ Aaron stand etwa einen Meter entfernt auf festem Boden. Seine Miene war um Ernsthaftigkeit bemüht, doch in seinen silbrigen Augen funkelte der Spott.

Annell zog noch einige Male heftig an ihrem Bein und schrie wütend. Sie beschoss ihn mit einem vernichtenden Blick.

„Na, was denkst du denn!“

Jetzt musste er doch lachen. Er trat vorsichtig an den Rand des schlammigen Bodens, legte sich ihren Arm um seine Schulter, seinen eigenen um ihre Taille und zog. Unendlich langsam begann ihr Fuß, sich aus dem Sumpfloch zu befreien. Es war für beide eine enorme Anstrengung, doch dann war der Stiefel plötzlich befreit. Beide verloren den Halt und plumpsten auf den feuchten Boden. Der modrige Geruch von Moos und Schlamm stieg Annell in die Nase. Er vermischte sich mit dem scheinbar allgegenwärtigen Schwefelgestank.

Annell rappelte sich als erste wieder auf und kroch hastig von dem Sumpfloch weg. Sie setzte sich an den Stamm einer knorrigen Weide, deren Wurzeln ihr festen Halt boten. Dann fuhr sie Aaron zornig an.

„Das ist alles deine Schuld! Deinetwegen sitzen wir in diesem gottverdammten Sumpf fest! Deinetwegen wäre ich heute schon drei Mal beinahe versunken! Deinetwegen haben wir feindliche Soldaten auf den Fersen! Deinetwegen…“

„Ich hab schon verstanden!“ Aaron hob abwehrend die Hände. Er kroch ebenfalls über die Wurzeln und setzte sich neben sie. „Es ist alles meine Schuld. Trotzdem müssen wir weiter. Wenn wir deine Vision stoppen wollen, müssen wir mit dieser Frau reden. Das können wir aber nur, wenn du dich endlich beruhigst und aufhörst, alle zwei Minuten einen Wutanfall zu bekommen!“

Er war fast genau so gereizt wie sie. Einen ganzen Tag wanderten sie jetzt schon durch dieses modrige, stinkende Sumpfloch, ohne genau zu wissen, wohin. Es war ein mühsamer Marsch. Ständig zog es an ihren Füßen und überall schwirrten Mücken umher, die nach ihrem Blut dürsteten. Ihre Nerven lagen blank. Zu allem Überfluss befanden sie sich inzwischen in feindlichem Königsgebiet. Ein dutzend Soldaten hatten sie vor einigen Tagen ausgemacht und verfolgten sie seitdem. Bislang waren Annell und Aaron immer davon gekommen, doch würde ein Kampf ausbrechen, hätten sie mit zwei gegen zwölf schlechte Karten.

„Ich habe dich nie um deine Hilfe gebeten!“ Sie schob trotzig das Kinn vor. „Warum bist du überhaupt noch hier!“

Er sprang wütend auf. „Weil ich…!“

Weiter kam er nicht.

Er weitete erschrocken die Augen und blickte an sich hinunter. Der Anblick des hölzernen Pfeils, der plötzlich in seinem Bein steckte, ließ ihn erstarren. Annell hatte nur das leise Surren gehört, das den Flug des Pfeils begleitet hatte.

Der Schock fuhr ihr durch die Glieder. Sie haben uns!

Sie fasste Aaron am Handgelenk und lief los.

„Ich bin hier.“, Sandora trat hinter Lena hervor, sodass Niel sie sehen konnte. „Ihr kennt euch schon?“

„Wir haben zusammen Geschichte.“, erklärte Lena.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt