Kapitel 36 - Heiße Fragen und heikler Tee

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Gluckernd plätscherte der Bach den flachen Hügel hinunter. Das klare Wasser sprudelte über die glattpolierten Steine und schäumte wild, um sich schließlich in einem seichten See zu verlieren. Die Wasseroberfläche funkelte glitzrig im mittäglichen Sonnenlicht.

Stöhnend ließ Annell sich am Ufer der Quelle nieder und tauchte ihre geschundenen Hände in das kühle Wasser. Lächelnd ließ sie es über ihre Finger rinnen und genoss die wohltuende Kühlung. Dann beugte sie sich vor, sprenkelte sich das Wasser auch ins überhitzte Gesicht und hielt sich die erkalteten Hände in den Nacken. Es tat gut, nach der wochenlangen Reise eine etwas längere Rast einzulegen. Sie trank in großen Schlucken und füllte dann ihre Trinkvorräte wieder auf. Danach ließ sie sich auf einen etwas größeren Stein sinken und die kitzelnden Sonnenstrahlen auf ihrer müden Haut tanzen. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf den glitzernden See.

Wie gern sie jetzt gebadet hätte!

Doch daran war im Moment leider nicht zu denken. Immerhin reiste sie in einer Gruppe, die ausschließlich aus Männern bestand und diese ließen sie nie aus den Augen. Annell hätte nicht im Traum daran gedacht, wegzulaufen und Aaron allein in den Fängen des granitischen Prinzen zu lassen, doch die Männer wollten kein Risiko eingehen. Sie hatten rund um die Uhr ein Auge auf sie.

So auch jetzt.

Der eiserne Blick des bewaffneten Hünen stach unangenehm in ihren Nacken. Sie ließ sich jedoch nicht beirren und entledigte sich ihres Reiseumhangs und der Stiefel. Dann krempelte sie die Hose bis zu den Knien hoch und stieg in den plätschernden Bach, um wenigstens ihre Arme und Beine zu säubern. Das eisige Wasser tat ihren verspannten Muskeln gut und linderte die Schmerzen der erschöpfenden Reise ein wenig.

Nachdem sie fertig war, nahm sie ihre Sachen wieder an sich und ließ sich von dem grimmigen Söldner zurück zur Gruppe eskortieren. Sie konnte Aaron ausmachen, der etwas verloren an einem Stein lehnte und auf seine leeren Hände starrte. Annell konnte eine silbrige Narbe erkennen, die sich seinen Nacken hinab zog. Sie fragte sich, was es damit auf sich hatte und wo sie herkam.

Doch jetzt war nicht der richtige Moment, um ihn zu fragen. Sie setzte sich neben ihn.

„Willst du nichts trinken?“

„Hab ich schon“, antwortete der junge Mann, ohne aufzusehen. Er war schon seit einiger Zeit so. Nachdenklich und in sich gekehrt. Annell wusste, dass er sich Sorgen um seine Mutter machte. Ihr Mann war vor einigen Jahren verstorben und Aaron war alles, was ihr noch blieb. Wenn er nicht zurückkehrte, würde sie vermutlich am Boden zerstört sein – ganz zu schweigen davon, dass sie kein Einkommen mehr hatte und somit verhungern würde.

Annell nahm mitfühlend seine Hand in ihre und drückte sie. Jetzt sah er doch zu ihr auf. Seine silbrigen Augen schimmerten traurig. „Jetzt ist alles vorbei, oder? Und wir können nicht einmal die Vision aufhalten.“

Annell zog eine Augenbraue hoch. „Du glaubst immer noch an diesen Unsinn?“

„Naja, irgendwas muss die Seherin doch…“

„Die Seherin ist eine hinterhältige Schlange, die uns erst in diese Situation gebracht hat! Sie hat genau gewusst, dass vor ihrem Haus die Graniter auf uns warten. Und sie wusste, dass sie uns gefangen nehmen würden.“

Aaron runzelte die Stirn. „Du meinst, sie hat das alles geplant?“

Annell seufzte bestätigend. Sie wusste nicht, welches Ziel die Seherin verfolgte, doch so oder so würde es schlecht für sie enden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass Anita es doch gut mit ihnen gemeint hatte.

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