Kapitel 2 - Unerwarteter Besuch

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Wieder zuhause angekommen wollte Lena sich am liebsten klammheimlich in ihr Zimmer verziehen. Sie wusste, dass ihr Patenonkel mit seiner Frau zu Besuch war. Das letzte, was sie jetzt wollte, war, jemandem unter die Augen zu treten und sich mit ihm zu unterhalten. An der Tür zog sie so leise wie möglich ihre Schuhe aus und strebte dann zügig dem oberen Geschoss zu. Sie kam nur bis zur Treppe.

„Leni, Schätzchen! Da bist du ja wieder. Das ist wirklich fürchterlich was mit deiner Mutter passiert ist. Mein Beileid. Warte mal, ich muss dich doch erst mal umarmen!“

Lena, schon auf der ersten Stufe angekommen, drehte sich wieder um. Am anderen Ende des Raumes stand eine etwas rundlichere Dame mit einem hässlichen, pinken Täschchen. Ihre blonden Haare fielen ihr offen über das weite Dekolleté und ihre großen, dunklen Augen leuchteten fröhlich.

„Hallo, Tante Christina.“

Schneller als man es ihr zugetraut hätte, überquerte die Frau den Raum und zog Lena in eine feste Umarmung.

Tante Christina war die Frau von Lenas Patenonkel und damit eigentlich gar nicht ihre Tante. Streng genommen waren sie nicht einmal miteinander verwandt; Christina bestand aber darauf, Lenas Tante zu sein. Sie wollte eine ganz besonders große Rolle in Lenas Leben spielen; vermutlich, weil sie selber nie Kinder gehabt hatte und mit weit über fünfzig Jahren auch keine mehr zu erwarten brauchte.

„Du armes Kind! So jung und schon ohne Mutter. Es ist wirklich schrecklich. Wie ungerecht die Welt doch ist. Ungerecht, sage ich dir.“, jammerte sie.

Schon wurde Lena in das Wohnzimmer geschoben und auf das große Sofa gesetzt.

Auf einem der Sessel saß auch ihr Patenonkel, Paul, dem sie nun hilfesuchende Blicke zuwarf. Er grinste schadenfroh und lehnte sich im Sessel zurück. Christina verschwand in der Küche. Lena schaute ihr hinterher. Christina mochte ja nur das Beste für sie wollen, aber manchmal war das Beste doch zu übertrieben.

„Wie lange bleibt ihr?“, Wollte sie von ihrem Patenonkel wissen.

„Ein paar Tage. Das kommt darauf an, wie lange Christina frei bekommt.“

Christina war die Sekretärin von irgendeiner bekannten Psychologin, deshalb dachte sie, sie hätte Ahnung von Psychologie. Paul war Wissenschaftler. Er erforschte unsere Vorfahren, die Steinzeitmenschen. Im Studium hatte er Lenas Vater kennengelernt. Sie haben sich angefreundet; deshalb hatte ihr Vater Paul zu ihrem Patenonkel ernannt.

Lena mochte Paul. Er war ein ruhiger Zeitgenosse, ganz anders als seine Frau.

Am Abend kochte Tante Christina für die Familie.

Der Duft des leckeren Bratens erfüllte das gesamte Haus. Kaum hatte Lena den Kopf aus ihrer Zimmertür gesteckt, schlug er ihr entgegen. In jedem anderen Moment hätte sie sich vermutlich überschlagen, möglichst schnell bei der verführerischen Geruchsquelle anzukommen. Gerade jetzt lag ihr Appetit aber mal wieder brach. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie auf kaum etwas Appetit. Viel gegessen hatte sie seitdem auch nicht.

Mit einem tiefen Seufzen ging Lena ins Erdgeschoss.

 Im Esszimmer saßen alle bereits am Tisch und unterhielten sich angeregt miteinander. Das laute Geräusch der aufeinanderprallenden Stimmen hörte sich in Lenas Ohren zu fröhlich an.

Sie setzte sich zu ihrer Familie an den Tisch und blickte in die ausnahmslos fröhlichen Gesichter. Zu ihrer Verwunderung saß ihr Vater auch am Tisch. Das hatte er schon lange nicht mehr getan. Seit dem Tod seiner Frau hatte Lena das Gefühl gehabt, er habe sich verschlossen. Gegenüber ihr und dem Rest der Welt. Er saß nur noch an seiner Arbeit, verschanzte sich hinter ihr und gab ständig an, keine Zeit zu haben. Gerade jetzt, als Lena ihn dringender brauchte als jemals zuvor, war er nicht für sie da.

Die anderen hatten bereits begonnen, sich etwas aufzutun. Lena griff nach einigem Zögern zu der Schüssel mit Gemüse. Das sollte ihren Magen nicht so sehr anstrengen. Sie häufte einen kleinen Schlag auf ihren Teller und zwang sich, sich zwei der leckeren Möhren in den Mund zu stecken. Das Kauen funktionierte. Von dem Geschmack bekam sie nichts mit.

Lustlos starrte sie auf ihren Teller und kam sich dabei vor wie Julian, der am Morgen genauso dagesessen hatte wie sie jetzt.

Lena spürte einen Blick auf sich und sah auf.

Der Blick kam von ihrem Vater. Er war unrasiert. Die unordentlichen Bartstoppeln umrahmten sein Gesicht. Seine hellen Augen wurden von dicken Ringen unterstrichen. In ihnen lag ein Gefühl, das Lena nicht deuten konnte. War das… Sorge?

Am Tisch war es wieder ruhiger geworden. Noch hielt sie dem Blick ihres Vaters stand, aber lange würde sie das nicht mehr durchhalten. Sekunden verstrichen, in denen er sich regelrecht in sie hineinbohrte. Dann räusperte er sich endlich. Seine Stimme klang rau, so als hätte er sie lange nicht mehr benutzt.

„Lena“, fing er an und Lena hatte keine Ahnung, was nun auf sie zukam. Ihr Vater sah ihr noch tiefer in die Augen. Langsam begann sie, sich unwohl zu fühlen.

„Tante Christina meint, dass du vielleicht Hilfe brauchst.“

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