Kapitel 59 - Die wahre Identität

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Aaron lag auf dem Boden, den Kopf in Annells Schoß gebettet und die linke Hand fest um die ihre geklammert. Seine Augenlider flatterten und er gab gelegentlich ein leidendes Stöhnen von sich. Der Heilungsprozess musste schwer und schmerzhaft sein.

Das Kampfgetöse war noch immer nicht erloschen, doch langsam schien es zu verebben. Auch Krieger waren nur Menschen und wurden mit der Zeit müde.

Die Graniter schienen zurzeit im Vorteil zu sein, doch bloß um ein paar Männer. Der Vorsprung konnte leicht wieder aufgeholt werden.

Annell hatte irgendwann aufgehört, den Stand zu überblicken.

Fliels dunkler Schatten fiel über sie und die Kriegerin zwang sich dazu, den Blick zu heben. Zu ihrer Verwunderung war sein ausgestrecktes Schwert einmal nicht auf sie gerichtet. Stattdessen fixierte es Linda. Die Seherin saß ungerührt auf einem Stein und machte keine Anstalten zu fliehen oder anzugreifen. Letzteres wäre vermutlich ohnehin sinnlos gewesen.

„Bist du eine Hexe?“, knurrte Fliel drohend. Seine Haltung verriet, dass Aaron ihm stark zugesetzt hatte, doch gegen die junge, unbewaffnete Frau hatte er sicher ein leichtes Spiel.

Dennoch ließ Linda sich nicht irritieren. Ihre Lippen umspielte ein geheimnisvolles Lächeln, während sie sich zu Annell umdrehte. Ihre Stimme war säuselnd wie der Wind, der durch einen kargen Baum fuhr. „Annell? Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“, eröffnete sie. „Er lautet folgendermaßen: Du bist jetzt und in der Zukunft dafür verantwortlich, dass mir nichts zustößt. Weder durch ihn“, sie machte eine deutliche Kopfbewegung zu dem granitischen Prinzen, „noch durch irgendjemand anderen.“

Annells Kiefer knirschten. Der erste Gefallen war geäußert worden und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Schwankend richtete sie sich auf, legte Aarons Kopf behutsam auf dem Boden ab und postierte sich zwischen Fliel und der Seherin. Auch der Kriegerin sah man an, dass sie kaum noch in einem kampffähigen Zustand war. Linda hatte zwar ihre gröbsten Wunden versorgt und das Bein wieder eingerenkt, doch es fiel ihr schwer, zu gehen, geschweige denn ein Schwert zu führen.

Fliel sah das anscheinend ähnlich, denn er ließ die Waffe wieder sinken.

„Es hat keinen Sinn, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.“ Seine Stimme zeigte seine Erschöpfung noch deutlicher als seine Bewegungen es taten.

„Das sehe ich genauso.“, stimmte Annell zu. Nachdem sich der Prinz auf den Boden fallen gelassen hatte, gesellte sie sich wieder zu Aaron, wenn sie auch darauf bedacht war, jeden Moment wieder aufspringen zu können, um Linda zur Hilfe zu eilen.

„Könnte mir jetzt endlich mal jemand erklären, was hier eigentlich los ist?“, stöhnte Fliel schließlich. Seine Frage war hauptsächlich an Annell gerichtet. „Was bist du?

Ihre eigenen Worte hallten in ihrem Kopf wieder.

Ich bin auf der Suche…

Ihre Miene verfinsterte sich, doch sie konnte ihm die Antwort nicht verweigern. Zu lange war zwischen ihnen vieles im Unklaren gewesen und die Reise reichte noch zu weit, als dass sie solch schwerwiegende Geheimnisse mit sich herum tragen konnten.

Mit einem schweren Seufzer begann sie. „Du erinnerst dich an die erste Geschichte, die ich dir erzählt habe?

Die heutigen Könige fanden eine Seherin im Wald. Sie ging mit ihnen und lebte einige Zeit bei Varren.“ Sie holte tief Luft, um sich auf die folgenden Worte vorzubereiten. „Die Seherin hieß Sabrina. Sie war eine große und begabte Seherin und… sie war meine Mutter…“ Einen Moment lang herrschte Schweigen, in dem Fliel diese Information verarbeitete. Dann fuhr Annell fort. „Ich bin in Varrens Schloss als seine Tochter aufgewachsen. Rechtmäßig gebührt mir der Titel erste Tochter des Varren und zudem der Thron, sollte meinem König etwas zustoßen.“

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt