„Lauf!“ befahl sie Aaron und rannte los; im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch und dann ins Unterholz. Sie versuchte, sich möglichst auf den stabilen Wurzeln zu halten, um nicht wieder in den Boden einzusinken. Gleichzeitig zog sie ihr Schwert aus ihrem Gürtel, um sich im Notfall gegen ihre Angreifer verteidigen zu können.
Einer von ihnen kam gerade aus dem Gebüsch heraus gesprungen, doch Annell duckte sich blitzschnell unter seinem Säbel hinweg und stach zu. Sie verfehlte ihn um Haaresbreite, doch in ihrem Adrenalinrausch hängten sie ihn schnell ab und flohen tiefer in den Sumpf hinein. Annell hörte Flüche und Geschrei hinter sich. Sie kümmerte sich nicht weiter darum, lief einfach weiter und ließ Aaron nicht los, in der Angst, sie könnte ihn verlieren.
Sie hechteten über Wurzeln und Geäst, als Annell auf einmal einen vertrauten und zugleich fremden Geruch wahrnahm. Sie zog verwirrt die Nase kraus. Er war ekelhaft süß und gammlig. Sie brauchte einen Moment, bis sie darauf kam, was es war. Dann machte ihr Herz vor Erleichterung einen Sprung.
Der Geruch zeigte nichts anderes, als, dass ein Seher in der Nähe war, der sich ihnen zu erkennen gab.
Annell hielt nach einer auffälligen Blume Ausschau und tatsächlich erhaschte sie nach einigen weiteren Schritten etwas Buntes zwischen den Bäumen. Sie änderte ruckartig die Richtung und lief darauf zu. Aaron keuchte überrascht auf, als er von ihr mitgezogen wurde.
Die handtellergroße Blume spross zwischen den Wurzeln einer krummen Weide. Ihre Blüten waren in einem traurigen Blau gefärbt. Sie schien ihnen den Weg weisen zu wollen und Annell verstand die Aufforderung. Sie hetzte zwischen den Stämmen hindurch, in der Hoffnung, dass der fremde Seher ihnen wirklich helfen wollte und nicht nur bösartige Spielchen mit ihnen trieb.
Die Flüchtenden sahen die Hütte erst, als sie fast dagegen stießen. Sie war so gut getarnt, dass man sie einfach übersah. Sie bestand aus dem blassen Holz der Bäume, die es im Sumpf zu Hauf gab. Moos und ähnliche Gewächsen wucherten auf ihr.
Ohne weiter darüber nachzudenken, zog Annell die Tür auf, schob Aaron hindurch und schloss sie dann hinter ihnen.
Sie lehnte sich gegen das knarrende Holz und atmete erleichtert auf. Hier waren sie auf jeden Fall sicher vor den Soldaten. Kein Seher und keine Seherin würden jemals freiwillig einen Haufen aufgebrachter Krieger in ihr Haus lassen. Wenn die Gefahr bestünde, dass Aaron und sie diese Männer anlockten, wären sie gar nicht hier. Der fremde Seher hatte sie also gerettet.
Blieb nur noch zu hoffen, dass er es auch weiterhin gut mit ihnen meinte.
Annell schaute sich aufmerksam im Haus um. Es war gemütlich eingerichtet. Die Wände, der Boden und sämtliche Möbel bestanden aus demselben hellen Holz und überall waren fein gewebte Deckchen und Tücher ausgelegt.
Jetzt sah sie auch die Seherin, die sie gerufen hatte. Es handelte sich um eine ältere Dame, die in einem Schaukelstuhl saß und sie aufmerksam beobachtete. Lange, blonde Haare fielen ihr offen über die Schultern. Die dunklen Augen schauten sie gutmütig und herzlich an. Ein wissendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
„Nun mal ganz ruhig.“, schmunzelte sie. „Kommt erst mal herein und ruht euch aus. Das war ein ziemlich anstrengender Tag. Ich habe euch Tee gekocht.“ Sie deutete auf eine Kanne, die auf einem Tisch in der Mitte des Raumes vor sich hin dampfte. Zwei Sessel standen daneben. Annell und Aaron strebten ihnen zu und setzten sich. Das Grinsen der Dame wurde daraufhin noch breiter. Sie schenkte ihnen Tee in zwei wunderschön verzierte Tassen. „Mein Name ist Anita. Ich bin die Seherin des Sumpfes.“
Annell nickte ihr freundlich zu. „Vielen Dank, dass du uns gerettet hast, Anita.“
Sie nahm eine Tasse und trank daraus. Aaron schien vorsichtiger zu sein. Vielleicht dachte er an Gift im Getränk? Dummer Junge! Wenn die Seherin sie umbringen wollte, würde sie das entweder schaffen oder eben nicht. Nichts, was sie taten, konnte etwas daran ändern. In der Nähe der Seherin war ihr Schicksal bereits besiegelt. Deshalb machte sie sich keine Sorgen darum, was passieren könnte.
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...