Kapitel 17 - Ein großer Gefallen

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Herr Hirsch kam und schloss den Raum auf. Neben Lena war noch ein Platz frei, auf den sich Sandora setzten konnte. Zum Glück hatte Lena die letzten Stunden gut aufgepasst und konnte ihrer neuen Sitznachbarin alles erklären, was sie nicht verstand. Immunbiologie fand Lena wirklich einfach, deshalb gelang es ihr und Sandora relativ schnell, sämtliche Aufgaben auf dem Arbeitsblatt zusammen zu lösen.

Herr Hirsch war gerade dabei, einigen anderen Schülern zu erklären, was der Unterschied zwischen einer humoralen und einer zellulären Immunreaktion war. Die restlichen Schüler waren noch mit den Aufgaben beschäftigt oder unterhielten sich leise miteinander.

Lena erklärte Sandora den Aufbau eines Bakteriums. Es machte ihr unerwarteten Spaß, ihr Wissen an jemanden weiterzugeben. In Biologie saß sie sonst immer alleine. Sandora dabei zu haben, war ein gutes Gefühl. Sie freute sich über jede Kleinigkeit, die sie ihr beibringen konnte.

„Und Viren sind ganz sicher keine Lebewesen?“

„Nein, sie können sich nicht selber fortpflanzen. Deshalb brauchen sie ja die körpereigenen Zellen. Siehst du?“ Lena zeigte auf eine Grafik, die den ganzen Prozess recht gut darstellte. Sandora wollte noch eine Frage stellen, doch die Schulklingel unterbrach sie. Lena hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verflogen war. Um sie herum fingen alle an, ihre Sachen einzupacken. Sandora steckte ihre Stifte ein.

„Oh, je…“, stöhnte sie, „Das verstehe ich ja nie!“

„Ach, was! Wenn man es einmal verstanden hat, ist das gar kein Problem mehr. Du kannst mit deinen Fragen immer zu mir kommen.“ Lena wollte sich unbedingt für Sandoras Angebot revangieren.

„Das ist nett, danke.“, sie setzte ihre Schultasche auf dem Tisch ab und machte eine nachdenkliche Miene. „Wäre es in Ordnung, wenn ich morgen nach der Schule zu dir komme? Dann könnten wir zusammen für Bio lernen.“

Lena war erstaunt. Seit einem halben Jahr – also seit San weggezogen war – hatte sie keine Freundin mehr bei sich zuhause gehabt.

„Ja, klar.“ Sie musste lächeln. Es war doch ziemlich seltsam:

Irgendwie freute sie sich schon darauf.

Der nächtliche Wind rauschte durch den Wald und erzeugte so ein unheimliches Heulen. Vogelschreie klangen in der Nacht, die Annell keiner Art zuordnen konnte. Sie strengte ihre Augen an, um die fremdartigen Kreaturen im Geäst zu entdecken, doch sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen.

Annell schauderte. Ihre Lebenskräfte hatten über Nacht noch weiter nachgelassen. Sie konnte sich kaum noch wach halten, geschweige denn sich bewegen. Aaron musste sie durch den Wald tragen. Der Boden war feucht und gab mit jedem Schritt ein matschiges Geräusch von sich, bei dem sich Annell die Nackenhaare aufstellten.

Erschöpft lehnte sie ihren Kopf an Aarons Brust. Sie empfand es als ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte. Vermutlich hatte sie das Aaron zu verdanken, der sich seit ihrem Zusammenbruch ununterbrochen um sie sorgte. Doch in ein paar Stunden würde auch er ihr nicht mehr helfen können. Annell wusste nur zu gut, wie leicht eine Vision einen Menschen umbringen konnte.

Sie brauchte dringend Hilfe und die konnte sie leider nur von einer Person bekommen.

„Warte“, flüsterte Annell plötzlich. Ihr Blick war auf eine violette Blume gerichtet, die am Wegesrand wuchs. Sie erkannte diese Blume wieder. Sie und ihren widerlichen, süßen Gestank.

„Hier ist es?“ Er schaute sich suchend nach allen Seiten um. Annell war nicht in der Lage, zu antworten. Sie ließ sich von ihm auf den Boden sinken. „Kannst du stehen?“ Annell nickte. Sobald er sie losließ, klappte sie jedoch in sich zusammen - wie eine Marionette, der man die Schnüre durchgeschnitten hatte. Aaron fing sie rechtzeitig auf und zog sie fest an sich. „Schon gut. Ich halte dich.“

Annells Beine fühlten sich wie warme Butter an. Sie hasste es, auf Hilfe angewiesen zu sein. Trotzdem ließ sie zu, dass Aaron sie weiter hielt.

„Wo ist sie?“, fragte er und sah sich wieder um. Annell merkte, dass seine linke Hand nervös zu seinem Waffengurt zuckte. Sie schaffte es, genug Energie aufzubringen, um zu sprechen.

„Keine Gewalt.“, auf seinen verständnislosen Blick hin erklärte sie: „Sie weiß über alles bescheid, was passieren wird. Wenn dieses Gespräch nicht so endet, wie sie es will, wird sie erst gar nicht kommen. Du musst dir schwören, ihr nichts zu tun.“ Es fiel Aaron ziemlich schwer, das konnte sie ihm ansehen.

„Und wenn sie dir etwas antut?“

„Sie ist nicht gefährlich.“, versicherte sie schnell. Ihre Nase begann, stark zu kribbeln, wie immer, wenn sie anfing zu lügen. Sie ignorierte es, damit Aaron nichts merkte.

Seine Hand entfernte sich zögerlich von dem Messer. Annell nahm sich ihrerseits vor, der Seherin alles zu geben, was sie wollte. Nur wenn die Seherin aus diesem Gespräch einen Nutzen zog, würde sie erscheinen und nur wenn sie erschien, würde Annell überleben können.

Dann kam sie. Wie selbstverständlich trat sie aus dem Wald hervor, ohne einen Laut von sich zu geben. Aaron zuckte erschrocken zurück und schob Annell  hinter sich.

Die Seherin war eine junge Frau. Sie hatte braune Haare und himmelblaue Augen. Ihre Haut war blass und es wanden sich dünne Ranken um ihre Arme und Gelenke. Sie lächelte.

„Annell. Schön, dich mal wieder zu sehen.“ Ihre Stimme klang wie der Wind in kargen Ästen.

„Linda.“ Annell versuchte, ihre Stimme nicht wegbrechen zu lassen und ihren Kopf aufrecht zu halten. Die beiden musterten sich lange Zeit stumm. Die Seherin wusste, dass Annell nicht mehr viel Zeit blieb. Wenn sie mit ihr handeln wollte, musste sie es jetzt tun.

Plötzlich fing sie an zu kichern. „Du bist von einer Vision überwältigt worden. Das geschieht dir ganz recht. Wärst du damals nicht abgehauen, wäre es dir ganz anders ergangen. Mutter hat gesagt, dass…“

„Kannst du ihr helfen oder nicht?“ Aaron war voller Sorge. Das machte ihn ungeduldig. Sie funkelte ihn wütend an.

„Natürlich kann ich.“ Sie kam näher – leichtfüßig wie tanzendes Laub im Wind. Den Jungen schob sie einfach zur Seite. Sie legte ihre Finger an Annells Schläfen.

Das plötzliche Gefühl war überwältigend. Es war, als würde ein Sturm durch ihren Kopf fegen und alles mit sich reißen. Ihre Gedanken waren auf einmal wie weggeblasen. Sie kniff die Augen zusammen. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, rauschte ein einzelner Gedanke durch ihren Kopf:

„Du schuldest mir einen Gefallen.“

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Viiielen Danke für die inzwischen ÜBER 800 LESER!!! :D Ihr seid echt klasse und ich liebe euch alle! <33 Danke, Danke, Danke! *___* <33

Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen! :D Vergesst bitte nicht, mir eure Meinung dazu in einem Kommentar zu hinterlassen ;D :** Ich bemühe mich dann auch ganz schnell weiter zu schreiben :)

LG Zara :*

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