„Hilfe?“, brachte sie verwirrt hervor. Alle am Tisch starrten sie an. Erwartungsvoll. „Wie meinst du…“
Ihr Vater starrte sie unentwegt an. Jetzt sah er ganz sicher besorgt aus. Er antwortete jedoch nichts. Stattdessen meldete sich Christina zu Wort.
„Das ist nichts Schlimmes, Schätzchen. Doktor Engel ist eine kompetente Diplom-Psychologin. Du wirst bestens bei ihr aufgehoben sein.“
Langsam begann Lena den Kopf zu schütteln. Erst nach und nach wurde ihr der Sinn der gerade gehörten Wörter bewusst. Sie wollten sie zu einer Psychologin schicken… aber wozu? Hatte sie etwas angestellt? Sie war doch kein schwer zu erziehendes Kind!
Jetzt fing ihr Vater wieder an zu sprechen.
„Christina macht sich Sorgen darum, dass du den Tod deiner Mutter vielleicht nicht richtig verkraften kannst und hat vorgeschlagen…“
Den Rest bekam sie schon gar nicht mehr mit. Ihr ohnehin schon überlastetes Gehirn schaltete ab.
Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt. Bildlich. In ihrer Vorstellung stand sie mit dem Rücken zur Wand. Alle Anwesenden bildeten einen dichten Kreis um sie herum. Es gab kein entkommen.
Ihre Verwirrung nahm zu und verwandelte sich schlagartig in Wut.
Sie, Lena, sollte den Tod ihrer Mutter nicht verkraften können??
Das war ja wohl der größte Schwachsinn, den sie je gehört hatte. Natürlich war sie traurig, aber sie deshalb zum Psychologen schicken? Sie war doch diejenige, die mit Sabrinas Tod noch ganz normal umging, während ihr Vaterseinen Kummer krankhaft in seiner Arbeit erstickte. Wenn überhaupt jemand zum Psychiater musste, dann ja wohl er!
Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete sie ihren Mund.
„Natürlich macht Christina sich Sorgen um mich! Viele Menschen machen sich Sorgen um mich! NUR DU NICHT!!!“, schrie sie ihren Vater an.
Jetzt blickten sie wirklich alle am Tisch verwundert an. Lenas Wut wurde dadurch noch geschürt. Was guckten sie alle so blöd! Sie hätte gerne noch mehr gesagt, doch ihre Stimme versagte und ihr nächster Versuch, zu sprechen, endete in einem kläglichen Quietschen. Ihr war zum Heulen zumute. Bevor noch irgendjemand etwas erwidern konnte, lief sie so schnell sie konnte auf ihr Zimmer.
Oben angekommen warf sie sich auf ihr Bett und begann zu weinen. Jetzt liefen die Tränen endlich von selbst und Lena spürte die Erleichterung, die das Weinen mit sich brachte. Gleichzeitig spürte sie aber auch Verwirrung. So massive Wutausbrüche erlitt sie normalerweise nicht.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon so auf dem Bett lag und in ihr Kissen heulte. Irgendwann versiegten die Tränen einfach und sie lag stumm auf ihrem Bett. Sie war ihren Familienmitgliedern dankbar, dass sie so viel Taktgefühl hatten, ihr nicht hinterherzurennen, um sie zu trösten. Trotzdem würde früher oder später bestimmt jemand nach ihr sehen. Sie kam sich verraten und missverstanden vor und wollte mit niemandem von ihnen reden – jetzt noch nicht. Was sie jetzt brauchte war… war… ein Freund!
Irgendwie schaffte Lena es, sich aufzurichten und auf den Wecker zu sehen. Es war neunzehn Uhr sechsundvierzig.
Zu spät?
Hastig fummelte sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Ilans Nummer. Es tutete einmal, dann zweimal. Lena hatte schon Angst, er würde nicht dran gehen. Dann meldete sich Ilans Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Lena.“, stellte er sachkundig ferst, „Was gibt´s?“
„Hey, Lan. Kann ich rüber kommen?“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe.
„Klar. Jetzt?“
„Wenn das geht, ja. Ich muss unbedingt weg von zuhause.“
„Gab es Ärger? Egal, erzähl es mir gleich. Du kannst sofort kommen, wenn du willst.“ Lena fiel ein Stein vom Herzen.
„Danke.“
„Immer doch.“, er lachte amüsiert, „Bis gleich.“
„Bis gleich.“
Sie legte auf. Dann schloss sie die Augen und schalt sich selber einen Dummkopf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Anscheinend war sie seit neuem Spezialistin darin, sich selbst das Herz zu brechen. Ihm so nahe zu sein und nicht…
Aber egal. Unterbrach sie ihre ungehorsamen Gedanken, Besser das, als alleine hier zu bleiben und mich zum heulen zu bringen.
Sie blieb noch einige Augenblicke sitzen, in denen sie sich eintrichterte, dass Ilan nur ein Freund war – ihr bester Freund – und nichts weiter. Sie hatte Angst, in seiner Gegenwart irgendetwas Dummes zu unternehmen. Dann stand sie auf und packte ihre Sachen: Ihre Schultasche, Zahnbürste, Kleidung…
Lena hatte schon oft bei Ilan übernachtet und andersherum genauso. Das war nichts Besonderes mehr. Eher eine gute Möglichkeit, den eigenen Eltern auszuweichen, wenn diese gerade nicht gut auf ihre Kinder zu sprechen waren.
Als letztes schrieb sie einen Zettel, den sie an die Haustür heften wollte. >Bin bei Lan<. Ihr Vater verstand inzwischen, was sie damit meinte.
Lena schnappte sie sich ihre Jacke und Schuhe und schlich mit gepackten Sachen in den Flur. Sie spähte die Treppe hinunter. Nichts zu sehen. Aus Julians Zimmer drang gedämpft Musik. Leise Stimmen kamen aus der Küche oder dem Gästezimmer. Um zur Haustür zu gelangen, musste sie nur durch das Wohnzimmer. Wenn alle drei Erwachsenen in der Küche oder dem Gästezimmer waren, drohte ihr keine Gefahr, erwischt zu werden. Das Risiko konnte sie eingehen.
Leise huschte sie die Treppe hinunter und blieb abrupt stehen, als sie Paul im Sessel sitzen sah. Mist! Paul schaute verwundert auf. Dann lächelte er.
„Wo willst du denn hin?“
Lena hielt einen Finger an ihre Lippen, um ihm zu signalisieren, dass er leiser sprechen sollte. Sie hatte Angst, von ihrem Vater oder ihrer Tante, deren Stimmen jetzt eindeutig aus der Küche kamen, gehört zu werden. Paul gluckste in sich hinein. Dann deutete er auf den Zettel, den sie in der Hand hielt.
„Ich gebe das deinem Vater, wenn du weit genug weg bist.“, flüsterte er.
Jetzt war sie schon ein wenig verwundert, hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn einer der beiden aus der Küche kam, kam sie um eine Diskussion nicht mehr herum. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
Sie gab ihm den Zettel und fragte sich, ob sie jetzt gehen durfte. Ihre Frage wurde verneint, indem Paul ihr mit einer Geste bedeutete, zu warten. Lena blieb nervös stehen. Ihr Patenonkel ging zügig auf die Geschenkkörbe zu, die er und seine Frau mitgebracht hatten. Er zog ein kleines, rotes Büchlein heraus und reichte es ihr. Als sie ihn verwirrt ansah, lächelte er.
„Ich habe in meiner Jugend auch eine Person verloren, die mir sehr am Herzen lag. Mir hat es damals geholfen, Tagebuch zu führen.“
Tagebuch? Lena hatte keine Lust, Tagebuch zu führen, aber auch keine Zeit, zu diskutieren. Sie nickte einfach nur und nahm das Büchlein entgegen.
„Danke“, beeilte sie sich dann zu sagen, weil sie nicht unhöflich erscheinen wollte. Paul zwinkerte ihr zu.
„Ich hoffe, es hilft dir.“ Er machte eine Geste in Richtung Tür. „Und jetzt geh.“
Lena schenkte ihm noch ein letztes dankbares Lächeln und beeilte sich, aus der Tür zu kommen.
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Ficção Adolescente„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...