Kapitel 58 - Der Tag aller Tage...

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Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, nahm sie den Kopf von seiner Schulter und sah sich nach Niel um.

Der blonde Junge stand etwas abseits und hatte noch immer kein Wort gesprochen. Stattdessen beobachtete er die beiden nur. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Als sie seinen Blick auffing, kam er einen zögerlichen Schritt auf sie zu. Dann blieb er unentschlossen stehen und ließ seine Hände sinken.

„Ich wollte das nicht. Ehrlich…“

„Ich weiß.“, versicherte sie. „Es ist schon in Ordnung…“

„Nein, ist es nicht. Ich… ich…“ Er fuhr sich mit den Händen durch die wüsten Haare und verteilte dabei überall Blut. „Ich hätte beinahe jemanden umgebracht! Ich… was ist nur in mich gefahren?!“ Sein verzweifelter Blick suchte den ihren. Er schaute sie so flehend an, als sei sie in der Lage, das alles wieder ungeschehen zu machen. „Es tut mir so schrecklich Leid…!“

„Niel…“ Sie wusste nicht, was sie sagen wollte. Schließlich hatte er Recht. Er hätte beinahe jemanden umgebracht. Doch wie sollte sie ihm beibringen, dass es nicht seine Schuld war? Dass ein anderer von ihm Besitz ergriffen hatte?

„Oh, Gott!“ Mit einem verzweifelten Stöhnen ließ sich der Junge ins Gras sinken und vergrub das Gesicht in den Händen, als wolle er sich vor ihren Blicken abschirmen.

Nell ahnte, dass es nichts gebracht hätte, ihn in diesem Moment anzusprechen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Etwas so Schlimmes war ihr noch nie im Leben zugestoßen. Und sie hoffte, dass es auch niemals wieder passieren würde.

Ohne Niel aus den Augen zu lassen, drückte sie schließlich wieder Aaron an sich, glücklich, ihn in den Armen halten zu können. Sie hatte solche Angst um ihn gehabt.

Er versuchte wieder zu sprechen, bekam jedoch kein Wort heraus und ließ es schlussendlich bleiben. Stattdessen strich er ihr nur über die Haare und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Wange.

So verharrten sie eine ganze Weile, viele, viele Minuten, bevor jemand kam, der sie schließlich fand.

* * * * * * * *

Im Krankenhaus herrschte eine bedrückende Stille. Die Nacht war bereits hereingebrochen und kaum jemand war um diese Uhrzeit noch hier. Die wenigen Krankenschwestern, die durch die hallenden Gänge irrten, beachteten sie gar nicht.

Im Wartezimmer roch es wie im Rest des Krankenhauses nach Bakterien und Desinfektionsmittel. Nell saß auf einem Stuhl zwischen Aaron und Niel. Ihr bester Freund hielt ihre Hand und drückte sie ganz fest. Niel hingegen schien sich bewusst von ihr fern zu halten. Genau wie Aaron hatte er noch kein Wort gesprochen.

Herr Melching ging aufgeregt im Wartezimmer auf und ab. Er hielt ihnen eine Strafpredigt, wie er es schon die ganze Fahrt über getan hatte. Nell gab sich zwar Mühe, ihm zuzuhören, scheiterte jedoch bei dem Versuch, den Sinn seiner Worte zu erfassen. Ihre Konzentrationsfähigkeit war auf dem Nullpunkt angelangt.

Auf der einen Seite war sie überglücklich, dass niemand gestorben war. Auf der anderen hatte sie sich noch nie elender gefühlt als in diesem Moment. Daran, dass sie der eigentliche Verursacher des ganzen Chaos war, wollte sie eigentlich gar nicht denken.

Sie tat es dennoch. Und sie machte sich die schlimmsten Vorwürfe deswegen.

Alles war ihre Schuld…

Nach scheinbar endlosen Minuten kam endlich eine Krankenschwester in das Zimmer. Nacheinander wurden ihre Wunden gereinigt und verbunden. Bei den meisten Blutergüssen wurde bloß eine Salbe aufgetragen. Niel musste an der Schulter genäht werden. Aarons Würgemale wurden kaum Beachtung geschenkt und der Arzt prüfte ihn bloß routinemäßig auf schwerwiegendere Verletzungen, welche anscheinend nicht gegeben waren.

Das Tagebuch - Ein Traum aus TinteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt