„Ilan, bist du da drin?“, fragte seine Großmutter.
„Ja“, erwiderte er mit einem unsicheren Blick auf Lena.
„Ich wollte dir eine heiße Suppe bringen. Soll ich sie in dein Zimmer stellen?“
„Ja, mach das. Ich komme gleich.“
„Gut“, antwortete es hinter der Tür. Lena dachte schon, sie wolle wieder gehen, doch dann fügte sie noch hinzu: „Wo ist Lena eigentlich?“
Sie hätte in diesem Moment vermutlich unsicher werden und überlegen sollen, wie sie sich aus der Sache wieder herauswand. Stattdessen fand sie die Situation einfach nur komisch. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszukichern. Ilan sah sie zugleich ungläubig und hilfesuchend an. Als sie nicht reagierte, rief er zurück:
„Sie ist schon wieder gegangen.“
Damit ließ sie sich zum Glück abwimmeln. Sobald Lena nichts mehr von ihr hörte, lachte sie lauthals los. Ilan kam mit hochrotem Kopf auf sie zu und versuchte, sie zum Schweigen zu bringen – vergeblich.
„Was soll meine Oma denn denken, wenn sie uns zusammen im Bad erwischt!“, zischte er.
„Nichts, was sie nicht ohnehin schon denkt.“, lachte Lena.
Tatsächlich war Ilans Oma, seit sie Lena kannte, der festen Überzeugung, dass sie einmal ihre Großschwiegertochter werden würde. In ihren Augen waren sie und Ilan bereits so gut wie verlobt. Dass die beiden jahrelang abgestritten hatten, ein Paar zu sein, hatte sie von diesem Gedanken nicht abgebracht.
Ilan taxierte sie mit einem ärgerlichen Blick. „Wenn du nicht sofort aufhörst zu lachen, verschwinde ich in mein Zimmer und du kannst zusehen, wie du hier unbemerkt wieder raus kommst.“
Was nicht besonders schwierig sein würde, denn Ilans Großmutter war fast blind. Mit einer Menge Überredungskunst brachte er sie dazu, ihren Kopf über das Waschbecken zu halten und ihre Haare wieder auszuspülen. Lena betrachtete sich hinterher im Spiegel.
„Jetzt sehe ich aus wie Annell.“, stellte sie emotionslos fest.
„Trockne deine Haare und mach, dass du verschwindest.“
„Willst du mich etwa loswerden?“, schmunzelte sie, tat aber dennoch, was er sagte.
„Nein“, erwiderte er sarkastisch. „Ich will nur nicht, dass meine Suppe kalt wird.“
Lena musterte das Handtuch in ihren Händen. Es war voller schwarzer Farbe.
„Tut mir Leid…“
„Macht nichts. Willst du dich noch föhnen?“
Sie schüttelte den Kopf. Die Haare trockneten an der Luft genauso gut und es war nicht kalt genug draußen, dass sie sich erkälten konnte. Sie schlichen zusammen aus dem Badezimmer. Ilans Oma saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Er begleitete sie noch mit vor die Tür. Sie drückten sich zum Abschied, doch Ilan hielt die Umarmung mal wieder enttäuschend kurz.
„Ich habe deine Wange schwarz gefärbt.“, schmunzelte Lena und fing an, in seinem Gesicht herumzureiben. Sie kam ihm dabei ziemlich nahe.
„Nell…“ seufzte er resigniert.
„Da ist noch ein Fleck.“, ließ sie nicht locker, immer noch grinsend. Sie kam einen weiteren Schritt auf ihn zu. Woher hatte sie nur plötzlich dieses Selbstbewusstsein? Seine Nähe ließ sie nicht mehr klar denken. Nur noch einen Schritt, dann…
Auf einmal griff er nach ihrem Handgelenk und hielt es fest. Seine Miene war ernst, seine Stimme sanft.
„Lena… Ich weiß nicht, was du dir erhoffst, aber ich muss dich enttäuschen. Es tut mir Leid, wenn ich dir Hoffnungen gemacht habe…“ Er verzog schuldbewusst das Gesicht. Dann eröffnete er, als wäre es etwas Neues: „Ich habe mich in San verliebt.“
„Ich weiß“, erwiderte sie ungerührt. Ilan zog überrascht die Augenbrauen hoch, sodass Lena wieder lächeln musste. Sie wusste immer noch nicht, wo ihre Selbstbeherrschung auf einmal herkam. Wäre sie nicht normalerweise in diesem Moment in Tränen ausgebrochen – sentimental wie sie war? „Das ist nicht zu übersehen.“, stellte sie stattdessen fest.
„Und…?“, fragte er unsicher.
Sie lächelte immer noch. „Und es ist in Ordnung.“
Was? Sie konnte ihren eigenen Worten nicht glauben. Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt?
„Du musst dir um mich keine Gedanken machen. Ich komme damit zurecht.“
Annell? Bist du das? Warum sagst du so etwas?
Keine Antwort.
„Wenn du meinst…“, er lächelte zögerlich. „Danke“
Lena lächelte immer noch und warf einen leicht vorwurfsvollen Blick auf ihr Handgelenk, das er immer noch fest umschlossen hielt. Er ließ sie augenblicklich los.
„Tut mir Leid.“, wiederholte er zum bestimmt hundertsten Mal an diesem Tag.
„Nicht schlimm“, versicherte sie und ergänzte zum Abschied: „Bis Montag.“
„Bis Montag.“
* * * * * * * * * * *
Drei Häuser weiter fing sie dann doch an zu weinen. Was immer sie bei Ilan ergriffen hatte – Annell oder irgendetwas sonst – es verließ sie so plötzlich wieder, dass sie beinahe schluchzend auf der Straße zusammengebrochen wäre.
Was ist nur los mit mir?
Die Straße verschwamm im Tränenschleier vor ihren Augen. Orientierungslos schleppte sie sich durch die Straßen. Sie wusste nicht, wo sie hin sollte. Nach hause wollte sie auf keinen Fall. Doch wohin dann?
Einfach nur weg.
Sie lief immer weiter. Immer schneller. Ihre Schritte wurden immer größer, beinahe lief sie. Sie fühlte sich, als wäre sie auf der Flucht, auch wenn sie nicht wusste, wovor sie floh. Vielleicht vor sich selbst. Oder vor dem Wesen, das langsam aber sicher von ihr Besitz ergriff.
Oder vor ihrem gesamten Leben.
Die Zeit verlor für sie jede Bedeutung. Irgendwann wurde es dunkel und sie lief immer noch. Nur immer weiter. Immer weiter. Bloß nicht zurückblicken.
Die Straßen wurden leerer und Laternen flammten auf.
Irgendwann wurde es doch so dunkel, dass sie nicht mehr genau erkennen konnte, wo sie überhaupt hinlief. Jetzt erst hob sie den Kopf.
Die schmale Straße auf der sie stand, war menschenleer. Es war ein Wohnblock mit eng stehenden Gebäuden zu beiden Seiten. Sie kamen Lena vor wie unüberwindbar hohe Gefängniswände.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Etwas unsicher ging sie einige Schritte in irgendeine Richtung. Das Resultat blieb dasselbe: Der Ort war ihr völlig fremd. Noch dazu wurde es jetzt wirklich dunkel und etwas unheimlich. Lena fröstelte und sie rieb sich die Arme.
Dann hörte sie ein Geräusch.
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Uhhhh... jetzt wirds gruselig^^ :D Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen - auch wenn es die schöne Atmosphäre vom letzten Kapitel wieder aufgehebt... :)
Kommis sind wie immer erwünscht! :D
LG Zara <3
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Das Tagebuch - Ein Traum aus Tinte
Teen Fiction„Es wird bald regnen." Die schwarzen Wolken, die sich vom Horizont her langsam und bedrohlich auf sie zuschoben, würden in einigen Minuten über dem Wald angekommen sein. Annell wollte sich gar nicht vorstellen, in was für einer Hölle aus prasselndem...