Glück im Unglück

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Die Schule war heute fast menschenleer. Wage konnte ich mich daran erinnern, dass Charles mir gesagt hatte es gäbe einen Ausflug in die Stadt. Die meisten Schüler hier waren noch Kinder und Charles ließ sie ohne Aufsicht das Gelände nicht verlassen. Kein Wunder, dass nun alle die Möglichkeit beim Schopf gepackt hatten. Hier und da hörten wir Musik aus den Zimmern ertönen. Niemand scherte sich um die Lautstärke, war ja niemand da, der es ihnen verbieten konnte. "Gehts hier immer so zu, wenn Charles das Haus verlässt?", fragte ich Erik voller Neugier. Plötzlich ertönte ein schrilles Klirren von zersplittertem Glas. "Nichts passiert alles gut.", hörten wir eine Stimme quer durch den Flur rufen. "Verdammt Scott, ich sagte du sollst die Vase nicht anrühren.", ertönte Jeans Stimme genervt. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Phuuu nein normal gehts hier nie so zu." Erik drehte sich zu mir um und musterte mich entschuldigend, als ob er etwas dafür könnte. Als wir um die Ecke bogen, kam uns Jean sofort entgegen und beschwerte sich über Scotts Ungeschicktheit. "Er kann sich einfach nicht zusammenreisen. Er ist einfach unmöglich." "Hey, das hab ich gehört.", empörte er sich, während er die Scherben versuchte zu verstecken. "Das war auch so gedacht.", schrie sie zurück. "Solange Charles es nicht weiß, macht es ihn auch nicht heiß oder?", zwinkerte Erik den beiden zu. Dankend nickten sie zurück und wir alle fingen an zu lachen. "Aber sagt mal, wieso seid ihr nicht mitgegangen?" "Wir können so oder so immer raus, außerdem hätten wir sonst den Babysitter spielen müssen." Sie verdrehte die Augen und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Scott suchte immer noch vergebens nach einem Versteck für sein Missgeschick. Verzweifelt sah er sich um, konnte aber nichts Geeignetes entdecken. "Sollen wir ihm helfen?", flüsterte ich Jean zu. Sie fing an zu kichern, war jedoch darauf bedacht, dass Scott sie nicht hören konnte. Es war also beschlossene Sache. Noch länger konnten wir nicht mit ansehen, wie er sich abmühte. Wenige Minuten später waren alle Beweise beseitigt und nichts mehr wies daraufhin, dass hier jemals eine Vase gestanden hatte.

Erik, Jean, Scott und ich waren nun gemeinsam auf den Weg zur Kantine. Ich hatte seit knapp einem Tag nichts mehr in den Magen bekommen. Ein herrlicher Geruch von gebratenen Kartoffeln und herrlich gewürztem Lammfleisch stieg mir in die Nase. Das ließ alter Erinnerungen in mir hoch kommen. Meine Mutter hatte auch immer Lamm zubereitet, fast jeden Sonntag. Die ganze Familie kam zusammen und gemeinsam unternahmen wir etwas. Ich konnte spüren wie mein Magen sich bei diesem Gedanken verkrampfte und mein Herz schmerzhaft in meiner Brust klopfte. Wenn sie doch nur hier sein könnten. Erik bemerkte den traurigen Ausdruck, der sich auf mein Gesicht gelegt hatte. Zögerlich nahm er meine Hand, drückte sie leicht und fragte was denn los sei. Die Röte stieg mir ins Gesicht. Um sie zu verbergen, wandte ich meinen Blick von ihm ab. "Schon gut, ich hab nur an meine Mum gedacht...... ich vermisse sie einfach.", sagte ich traurig. Er drückte meine Hand noch fester. "Das Gefühl kenne ich, auch wenn es bei mir schon etwas länger her ist. Es ist das schrecklichste Gefühl auf Erden. Aber ich werde dir helfen okay? Du musst das nicht alleine tun." Mein Trübsal war wie weggeblasen und ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Ich entriss meine Hand der seinen und lief voller Vorfreude Richtung Kantine.

Scott und Jean verabschiedeten sich nach dem Essen, zuvor bedankten sie sich jedoch noch einmal für unsere Hilfe. "Was würdest du denn jetzt gerne machen?", fragte er zuvorkommend. "Ich weiß nicht, gehen wir zum Teich und trainieren etwas. Immerhin kann ich mein Training nicht immer sausen lassen." Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und ein warmer Wind wehte. Das Gras hätte einen Schnitt nötig, aber auch so war es wunderschön. Die Vögel zwitscherten fröhlich auf ihren Bäumen. Es war schon fast zu friedlich hier. "Hast du eigentlich nie an Rache gedacht, Stef?", fragte Erik mich neugierig. "Was meinst du?", gab ich verwirrt zurück. Seine Miene wurde etwas dunkel als er weiterredete:" Ich meine die Jungs die dir all das hier angetan haben. Hätten sie es nicht verdient eine Abreibung zu bekommen?" "Bitte hör auf damit, ich will nicht an sie erinnert werden. Ich habe mit ihnen abgeschossen. Allein der Gedanke an sie bereitet mir Schmerzen. Aber nein, ich habe noch nie an Rache gedacht.", meinte ich. "Aber wieso denn nicht? Sie haben dir alles genommen, was du je geliebt hast und zwar auf grausamste Weise." "Hör auf Erik!", sagte ich etwas lauter als gewollt. "Ich sagte ich will davon nichts hören. Um ehrlich zu sein, am Anfang habe ich fast durchgehend an Rache gedacht. Ich hatte nichts mehr, war alleine und konnte nichts anderes tun als in Selbstmitleid zu versinken. Dann eines Tages kamst du.....seitdem sind sie mir egal, weil du mir hilfst all das zu verarbeiten. Ohne sie hätte ich zwar meine Familie nicht verloren, aber auch dich nie getroffen." "Du wiegst den Tod deiner Familie gleich schwer, wie mein Erscheinen? Womit hab ich das denn verdient." Verwirrt, aber irgendwie auch glücklich blickte er gen Himmel, auf eine Antwort von mir wartend. Was soll ich ihm bloß sagen? Dass ich ihn liebte? 'Oh nein kommt nicht in Frage'. Ich versuchte meine Stimme wieder zu finden, die mir anscheinend abhanden gekommen war. "Wieso fragst du so blöd. Ohne dich würde ich das hier nicht überleben. Du bist ein Geschenk des Himmels. Ich würde ansonsten immer noch in meinem Zimmer hocken und in der Ecke kauern..." "Aber warte mal einen Moment," unterbrach er mich, "ohne diesem Ereignis wäre es dir nie schlecht gegangen. Ich hätte dich also nie trösten brauchen. Also sag jetzt nicht, dass es auch seinen Vorteil hatte. Das ist total lächerlich." Seine Worte ließen mich zusammen zucken. "Willst du damit sagen du bereust es mich kennengelernt zu haben?", fragte ich betrübt. "Das habe ich nie gesagt.", erwiderte er aufgebracht. "Aber du hast gesagt es hatte nichts Gutes. Wäre das alles aber nie passiert, dann hättest du nie mit mir geredet, beziehungsweise ich wäre nie aus Irland weggegangen. Also sagst du mir gerade dass meine Bekanntschaft keine Bereicherung war." Ruckartig drehte er sich zu mir. "Jetzt red keinen Quatsch. Du bist seit Jahren der erste Mensch, den ich in meinem Leben dulde und der mir verdammt wichtig ist. Aber ja, wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich lieber wollen, dass das hier nie passiert ist, als dass du diese Schmerzen erleiden müsstest. Du hilfst mir zwar auch mit meinen klar zukommen, aber ich würde nicht einen Moment zögern dir deine zu nehmen. Lieber muss nur ich da durch, als du auch. Sollte das auch heißen, ich würde dich nie kennen lernen, dann weiß ich wenigstens, dass du glücklich mit deiner Familie in Irland bist. Ich würde mit meinem Verlust schon fertig werden." Eine Träne floss meine Wangen hinab. Verdammt. "Wie kann man dich nur hassen?", schluchzte ich. Diese Frage war mehr eine rhetorische, als das ich mir eine Antwort darauf erhoffte. Ich wollte und konnte mir nicht mehr vorstellen ihn nicht zu kennen, ihn nicht zu lieben. Und wenn mich jetzt jemand fragen sollte, ob ich mein altes Leben mit meiner Familie wieder haben wolle, aber Erik nie kennengelernt haben würde, dann hätte ich keine Antwort darauf. Ich wüsste nicht wie ich mich entscheiden sollte. "Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich sagen würde, dass ich mein derzeitiges Leben nicht eintauschen möchte?" Er nahm mich an beiden Händen und schaute mir tief in die Augen. Und wieder begann mein Herz zu rasen an, mir wurde leicht schwindelig und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. "Nein das macht dich zu keinem schlechten Menschen, denn das würde heißen ich wäre auch einer.", sagte er tröstend. "Danke.", murmelte ich vor mich hin, nicht wissend ob er es hörte oder nicht.

"Wollten wir nicht eigentlich trainieren?", fragte ich ihn belustigt. Seit geschlagenen zwei Stunden saßen wir nun an dem Teich und redeten, ohne dass ich auch nur einen Finger gerührt hätte. "Ich zwing dich zu gar nichts, die Entscheidung liegt ganz allein bei dir." Er stand auf, stellte sich vor mich und streckte mir eine Hand entgegen. "Na los steh auf. Der Tag ist nicht ewig lang also komm in die Gänge, Kleines." Voller Euphorie nahm ich seine Hilfe entgegen. Er zog mich ohne Mühe auf die Beine. "Aber um eines mal klar zustellen, ich bin nicht klein, das muss aufhören. Nenn mich wie du willst, aber nicht Kleines.", konfrontierte ich ihn. "Wärs dir lieber, wenn ich dich Großes nenne?", scherzte er. Er versuchte zwar sich zusammen zu reisen, gelingen mochte es ihm aber nicht. Mit einem lauten Platscher ergoss sich eine riesiger Schwall Wasser über ihn. Jetzt war es an mir ihn auszulachen. "Weißt du Erik, verarschen kann ich mich selbst auch, da brauchst du mir nicht zu helfen." Ich streckte ihm meine Zunge heraus, bevor er etwas erwidern oder sich wehren konnte, holte ich ihn von den Füßen. Mit einem lauten Knall landete er auf den Boden, stützte sich jedoch noch rechtzeitig mit seinen Armen ab. Die Rache ließ nicht lange auf sich warten. Schnell fing er sich wieder, richtete sich auf und hob mich mit Hilfe der Schiene, die sich in meiner Hand befand, hoch. Schreiend trat ich um mich. "Lass mich runter Erik, das ist unfair.", brüllte ich ihm zu. "Das sagt ausgerechnet die, die die Elemente beherrschen kann." Ich spürte wie er mich über das Wasser bugsierte. "Soll ich dich immer noch runterlassen?", fragte er. Doch bevor er auch nur eine Antwort von mir hätte bekommen können, ließ er von mir ab. Klitsch nass saß ich im Wasser und konnte nicht aufhören zu lachen. Auch er stimmte mit ein. Langsam zog er mich wieder auf die Beine und beförderte mich auf das Ufer zurück. "Nagut Kleines, lass uns einen Kampf mit fairen Mitteln bestreiten.", sagte er als Angebot des Friedens. "Gerne!", gab ich kampfbereit zurück, "aber du hast den Kampf schon verloren als du mich Kleines genannt hast." Stunden lang kämpften und lachten wir. Total erschöpft und mit haufenweise Prellungen begaben wir uns zu einem warmen Abendessen wieder zur Schule zurück.

H.O.P.EWo Geschichten leben. Entdecke jetzt