33. Wahrheiten

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Okay, das hatte ich nicht erwartet. Jamie wollte mit mir reden? Wozu denn das, ich meine, gut, unsere - wie sollte man das denn nennen, was da zwischen uns war? Freundschaft? - war ein bisschen komisch und aus allen Bahnen geraten, aber ich fand, dass das eigentlich nicht so schlimm war, jedenfalls nicht schlimm genug für "Wir müssen reden". 

Langsam drehte ich mich um, damit ich ihm ins Gesicht schauen konnte. Seine Miene war ausdruckslos, aber seine Augen waren klar und aufgewühlt, das tiefe Braun, in dem man sich so leicht verlieren konnte, schien von namenlosen Emotionen erfüllt, auch wenn er das zu verhüllen versuchte. Seine Maske hatte einen Sprung, und seine Selbstsicherheit war wie weggeblasen.

"Gut zu wissen", dachte ich mir: "Wenigstens bin ich nicht die Einzige die nicht so recht weiß was sie mit ihren Gefühlen anfangen soll." Jamie schien genau abzuwiegen, was er sagen wollte, und dann ließ er sich, immer noch tropfnass auf das kleine, gemütliche Sofa in der Ecke fallen. Da er immer noch kein Wort von sich gegeben hatte, schlüpfte ich schnell ins Bad, zupfte mein Badetuch von seinem Haken und warf es kommentarlos Jamie an den Kopf. 

"Hey!", protestierte dieser, unter dem flauschigen rosa Handtuch vergraben und dadurch ein bisschen gedämpft. "Du tropfst alles an, und jetzt machst du auch noch mein Sofa nass, das geht so nicht!", neckte ich ihn, grinsend. Wie er da unter dem rosa Tuch hervorguckte, das war schon ziemlich süß! Wie ein nasser Hundewelpe!

"Also", sagte ich, nachdem ich meine Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle hatte und nicht mehr lächeln musste. "Was musst du mir denn so Wichtiges mitteilen, dass du mir vormachst, dass du mich die Lateinaufgaben abschreiben lässt, nur um mit mir zu reden?"

"Ich wollte dich eigentlich nicht anlügen, aber wo du mir geschrieben hast, da habe ich mir gedacht, dass das vielleicht die einzige Gelegenheit sein wird, also hab ich ein bisschen geschwindelt...", sagte er und senkte schuldig den Blick. "Aber ich habe mir eben gedacht, ich muss das jetzt machen, bevor es zu spät ist."

Ich nickte langsam. "Gut, da wir das jetzt geklärt hätten... Ich meine, ich muss noch Hausaufgaben machen, und es ist schon spät...", sagte ich, und irgendwie wurde mir erst jetzt bewusst, dass ich das letzte Mal, als wir allein gewesen waren, wortwörtlich vor ihm davongelaufen war. 

Irgendwie war mir plötzlich kalt. Ich bemerkte erst im Nachhinein, dass ich einen Schritt zurück gemacht hatte, und man musste mir an den Augen ablesen können, was ich gerade dachte.

Jamies Gesicht war eine Grimasse, und mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich mit der Hand durch sein langsam trocknendes Haar. "Ich wollte mit dir reden, weil... Naja, ich kann verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zutun haben willst, und ich weiß jetzt dass das, was ich da gestern angedeutet habe nicht richtig, nein, ich meine, richtig furchtbar war und... ich wollte mich entschuldigen, und, ich hab das nicht erst gemeint, Ani. Ich würde nie jemanden zwingen. Nie. Und es tut mir wirklich leid, dass ich dir Angst gemacht hab und ich hätte das nicht sagen sollen. Ich...", Er vergrub das Gesicht in den Händen, seine Stimme merkwürdig hohl, aber ehrlich. "Sorry, Ani, ich werde einfach gehen...". 

Okay, das war absolut nicht, was ich erwartet hatte. Jamie hatte ein schlechtes Gewissen? Ausgerechnet er? Nungut, er hatte mir wirklich Angst gemacht, und seine Worte, sein "Alles könnte passieren..." hätte mich wahrscheinlich ziemlich paranoid gemacht, wenn ich nicht quasi den ganzen Tag entweder mit Lou, Jenny oder - und das war der eigentliche Grund - mit Thomas verbracht hätte. Mit Thomas fühlte ich mich absolut sicher. 

Als Jamie also jetzt an mir vorbei zur Tür eilen wollte, stellte ich mich ihm in den Weg und verschränkte die Arme. "Was ist dein zweiter Vorname?", fragte ich ihn scharf. "Sebastian - warte, warum?", antwortete er mir, verwirrt. 

"James Sebastian Walter, du wolltest mit mir reden also werden wir reden, wie erwachsene Leute, und du wirst nicht nach einem dahingenuschelten Monolog davonlaufen um dich in Selbstmitleid zu suhlen, also setzt dich aufs Sofa! Und trockne dich endlich ordentlich ab!", donnerte ich, wobei ich so gut ich konnte meine Mama imitierte, die diesen "Reden-wir-jetzt-mal-Klartext"-Tonfall besonders gut draufhatte. 

Jamie blieb verdutzt stehen, und ich hatte Gelegenheit, ihn ein bisschen in Richtung Sofa zu schubsen, bevor ich mich im Sessel gegenüber niederließ. "Also, was ist los mit dir?", fragte ich ihn ruhig, aber innerlich triumphierend. 

"Das ist eine gute Frage", sagte Jamie bitter. "Ich mache alles falsch. Ich lüge, betrüge, bedrohe, und... es gefällt mir. Die anderen sind mir egal, die, mit denen ich schlafe, die Beziehungen, die ich zerstöre, die Leute, denen ich Probleme mache! Es ist mir alles egal, solange ich Spaß habe! Spaß!". Jamie lachte, trocken. "Das ist alles nur Ablenkung, weißt du? Ein verdammter Zeitvertreib. Und es ist mir einfach egal. Quasi jeder ist mir egal... du bist mir nicht ganz egal, aber trotzdem muss ich gehen und alles kaputt machen, nur, um es zu tun! Um zu zeigen, dass ich es kann! Ich bin kaputt, Ani, und ich glaube kaum, dass mich jemand reparieren kann. Und vielleicht will ich das auch gar nicht."

"Jamie...", sagte ich, aber ich wusste nicht, was ich ihm sonst noch sagen sollte. "Geht's dir gut?", diese Frage lag mir auf der Zunge, aber das konnte ich ja wohl kaum sagen. Okay, ich war überfordert. Stille senkte sich über das Zimmer.

"Ich glaube nicht, dass du kaputt bist", sagte ich, in die lautlose Spannung hinein, die den Raum erfüllte. Jamie warf mir einen scharfen, zweifelnden Blick zu. "Du bist vielleicht einsam, und ein bisschen verloren, aber das wird schon. Wir sind Teenager. Wir haben quasi ein Recht dazu, haufenweise Fehler und Dummheiten zu machen! Und wenn du nicht der bist, der du sein willst, dann kannst du dich ändern. Dazu ist es nie zu spät! Hey, und ich bin für dich da, ja? Egal ob du die Lateinaufgaben hast oder nicht!"

Jamies Blick und schwaches Lächeln sagten mir, dass er mir nicht wirklich glaubte, aber ich hatte nicht mehr zu sagen. Langsam stand ich von meinem Sessel auf und setzte mich neben ihn auf Sofa. "Hey, willst du eine Umarmung? Weil, wenn ich mich mies fühle, dann hilft das immer, und außerdem...". Ich kam nicht weiter, denn Jamie hatte schon beide Arme um mich geschlungen, seinen Kopf auf meine Schulter gelegt und sein Gesicht in meinen Haaren vergraben. Wir saßen beide auf der Couch, und deswegen war zumindest ich ein bisschen verdreht, aber es war trotzdem nicht unbequem. Ein paar nasse Haarsträhnen kitzelten meine Wange, und ich musste lächeln. 

Ich hatte das Gefühl, dass Jamie noch nie mit irgendjemandem so geredet hatte wie mit mir. Ich fühlte mich seltsam stolz, dass er mir so vertraute. Leise lächelnd rutschte ich in eine ein wenig natürlichere Position, ohne die Umarmung zu brechen. Ich saß beinahe auf Jamies Schoß, aber das machte mir im Moment nichts aus. Die Situation hatte nichts romantisches, und außerdem, platonisches Kuscheln war definitiv legitim. 

Natürlich war das der Moment, in dem Lou fröhlich zwitschern die Tür aufriss und ins Zimmer stürmte. "Coucou, Cherie! Ich bin... Oh, Jamie? Was machst du den hier?".


*+*+*+*


Was folgte, war ein blitzschneller Abgang von Jamie und ein Abend voll von tausend und einer Frage, die ich lieber nicht beantworten wollte. Daran, dass ich am nächsten Morgen wieder Schule hatte, dachte ich besser nicht.

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