46. Vergessen

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Als mein Wecker läutete, glaubte ich, sterben zu müssen, so müde war ich. Verschlafen griff ich nach meinem Handy und machte das nervtötende Piepsen aus. Valentin war schon auf, ich konnte ihn im Bad hören. Warum genau waren wir gestern so spät zu Bett gegangen? Mein Gehirn fühlte sich an, als wäre es in Watte gepackt worden. Nicht wirklich ideal für Schule.

Ich blinzelte, um den Schlaf aus meinen Augen zu vertreiben, und klickte mich durch mein Handy. Eine neue Mail von meinen Eltern. Ein Einladungs-Link zu einem Fotoalbum von meiner alten Schule. Drei ungelesene Nachrichten von Thomas. Von gestern Abend. Oh, Mist. Ich hatte sie nicht mal gelesen! Valentin hatte mich so gründlich abgelenkt, dass ich komplett darauf vergessen hatte.

Irgendwie hatte ich schon jetzt Schuldgefühle. War es normal, dass ich einfach so auf eine Nachricht vom meinem Freund vergaß? Ich vergrub das Gesicht in den Händen und stieß ein frustriertes Geräusch aus. Das war eine Frage, auf die ich gar keine Antwort haben wollte.

Ani, ich hab gehört was passiert ist. Willst du reden? Ich bin noch bis sieben allein im Computerraum, und dann könnten wir Abendessen. Let's have dinner ;)

Das war die erste Nachricht, und ich biss mir auf die Lippe. Ich liebte es, Thomas zuzusehen, wie er im Computerraum irgendwelche technischen Dinge tat - ich hatte keine Ahnung, was genau seine Aufgabe war, aber er wirkte immer so in seinem Element, wenn er einen Computer vor sich hatte, dass es einfach faszinierend war, ihm zuzusehen. Es ärgerte mich, das verpasst zu haben. 

Ani? Alles ok? Wir können auch was anderes machen, wenn du willst?

Okay, ich konnte mir geradezu Thomas besorgt-verwirrten Blick vorstellen, als er diese Nachricht geschrieben hatte. Mein Magen zog sich zu einem kalten, harten Klumpen zusammen. Was für ein Pech, dass ich gestern nicht mehr auf meine Handy geschaut hatte. Ich mochte das Gefühl überhaupt nicht, meinen Freund so hängen gelassen zu haben. Vor allem, da er ja sehen konnte, dass ich die erste Nachricht gesehen, aber nicht gelesen hatte. Das machte die Sache irgendwie noch schlimmer.

Hey, ich geh jetzt schlafen. Ich hoffe, dir geht es gut. Schlaf gut, Ani. Süße Träume

Ach Thomas. Ehrlich, das hatte er nicht verdient. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr darauf, frühstücken zu gehen. Der Appetit war mir vergangen. Ich sollte Thomas antworten, auf der Stelle. Unschlüssig tippte ich auf dem Bildschirm herum. Was sollte ich schreiben?

Sorry, bin eingeschlafen? Das war eine glatte Lüge. Eine gute Ausrede, ja, aber war es das wert? Sorry, hab die Nachricht erst jetzt gesehen? Auch das war nicht wirklich die Wahrheit. Ich warf mich missmutig in meine Kissen. Die Badezimmertür öffnete sich, und ich begann, mechanisch meine Sachen für eine Dusche zusammen zu suchen. "Morgen", kam es von Valentin. Ich erwiederte den Gruß, erleichtert, dass wir beide keine Menschen waren, die in der Früh viel Lust auf Konversation hatten. Ich machte mich auf den Weg ins Bad.

"Die Sache ist die", dachte ich mit einem letzten Blick auf mein Handy. "Ich hab Thomas einfach vergessen." Und diese Wahrheit schmerzte mich mehr, als ich das zugeben wollte.


*+*+*+*


Ich stand vor der Türe von Lous Zimmer, meine Make Up-Tasche unter dem Arm, und konnte nicht anders als zu lachen, als ich schon vom Gang aus hören konnte, wie Lou gerade zu einem ihrer französischen Pop-Songs sang. Irgendwie hatte mir selbst das gefehlt. Meine eigentliche Mitbewohnerin und ich hatten uns heute verabredet, um unsere Outfits für die große Halloween-Party am nächsten Wochenende auszuprobieren, und das zu machen, was für die Badboy-Academy so bezeichnend war: zu tratschen. Nun, Lou war wenigstens immer gut informiert, im Gegensatz zu mir. Und sie hatte mir in den letzten Tagen echt gefehlt. Ich klopfte, zuerst sachte, und dann, als offensichtlich wurde, dass mich die Französin nicht gehört hatte, mit ein bisschen mehr Nachdrück. Die Musik verstummte abrupt, und einen Moment später wurde die Tür aufgeworfen, und Lou warf sich mir kurzerhand in die Arme.

"Chèrie! Finalement! Ich hab' schon geglaubt, du hast mich vergessen!", rief sie. Ich hatte das Gesicht voll kastanienbrauner Locken und erwiederte ihre Umarmung mit dem selben Enthusiasmus. "Keine Sorge, Lou. Dich zu vergessen ist quasi unmöglich", murmelte ich.

"Ich bin ja so aufgeregt, das wird heute fantastique, das weiß ich einfach!" Die gute Laune des älteren Mädchens war ansteckend, und ich beschloss, einfach die Zeit mit ihr zu genießen, und mir keine Gedanken über den Rest meines Lebens zu machen. Außerdem, ich freute mich schon total auf die Halloweenparty und mein Kostüm.


*+*+*+*

Elle me dit, c'est ta vie
Fais c'que tu veux, tant pis
Un jour tu comprendras
Un jour tu t'en voudras!

Die Lautstärke ihres Laptops auf Maximum hochgedreht sang Lou mit, und ich musste zugeben, dass auch mir das Lied gefiel, auch wenn ich kein Wort verstand. Ich war gerade dabei, die dunkelbraune Haarmähne meiner Freundin zu glätten, und zwar schon gefühlt seit mehreren Stunden. Wer hätte gedacht, dass Lou so viele Haare hatte? Ich jedenfalls nicht.

Schließlich verklangen die letzten Töne des Songs, und Lou drehte die Lautstärke runter, sodass wir uns unterhalten konnten. "Na, Chèrie, wie läufts denn mit dir und Thomas? Alles gut?". Und das war genau die Frage, vor der ich mich gefürchtet hatte. Ich war froh, dass ich mit Lous Haaren beschäftigt war, und sie mir nicht ins Gesicht blicken konnte. Ich war mir nicht sicher, was sie dort erkennen würde. Ich biss mir auf die Lippe.

"Gut", sagte ich. "Alles läuft super, wirklich". Das war nicht richtig gelogen, schließlich hatten wir uns nicht gestritten oder so. Lou legte den Kopf schief. "Ich weiß nicht, irgendwie klingst du nicht so glücklich, wie man das erwarten könnte. War euer Rendez-vous nicht gut? Oder... gibt es vielleicht einen anderen Grund?"

Ich zuckte die Schultern, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte. "Ich weiß nicht, eigentlich ist nichts. Thomas ist großartig. Und unser Date war toll, wirklich. Aber... ich habe trotzdem das Gefühl, als würde etwas nicht stimmen." Mit mir. Das ist es, was ich sagen wollte, aber unausgesprochen ließ. Mein Freund war gutaussehend, freundlich und zuvorkommend, einfach perfekt. Warum war ich also nicht glücklich? Warum saß ich hier, und redete mit Lou über meine Beziehung, anstatt mich mit ihm zu treffen? 

"Manchmal passt es einfach nicht, weißt du? Eine Beziehung ist wie ein Tanz, tu vois? Manchmal kommt einer aus dem Takt, und dann liegt es an beiden, wieder hinein zu finden. Geb euch Zeit, ihr seid ja noch nicht lang zusammen. Findet eure eigene Melodie. Und falls es mit Thomas nicht klappen sollte... du hast mindestens einen Verehrer, Chèrie. Wenn du es nicht willst, wirst du bestimmt nicht allein sein. Thomas hin oder her."

Das war nicht, was ich hören wollte. Thomas war mein Freund, und damit basta. Ich war ja zufrieden, nur ein bisschen verunsichert. Ich hatte nun mal vorher noch keine richtige Beziehung gehabt, und deswegen war ich verwirrt. So, Problem gelöst. Ich wollte nicht über eine Trennung nachdenken. Wir gehörten zusammen, wir verstanden uns, er war sexy. Ich würde nicht sagen, dass ich ihn liebte, aber verliebt war ich auf jeden Fall. Sicher. Das war, was ich wollte. Sicherheit. Und eine bessere Konstante als Thomas gab es nicht in meinem Leben.

"So, deine Haare sind fertig. Zeit für die Kostüme, oder?", wechselte ich das Thema. Lous Locken waren einer glatten Haarpracht gewichen, die ihr bis weit den Rücken hinunter reichte. Ich hatte tatsächlich nicht gedacht, dass sie so lange sein würden.

"Oui, c'est ça. Ganz genau, Ani", zwitscherte Lou fröhlich, und umarmte mich fröhlich, bevor sie ins Schlafzimmer verschwand, um unsere Kleider - böse Königin für sie, Alice im Wunderland für mich - zu holen.

Ich blieb zurück, während der Laptop ein langsameres Lied anspielte. Ich freute mich auf die Party, aber andererseits sah ich ihr auch mit Anspannung entgegen. Ich war mir sicher, dass Lou und ihr Kommitee alles haarklein geplant hatten - für ihren Geburtstag würde die Französin sicher nichts dem Zufall überlassen. Oh.

Oh nein.

Plötzlich wurde mir heiß und kalt. Verdammt. Die Party würde nicht nur eine Halloween-Party sein, nein. Lou wollte auch ihren Geburtstag feiern. Das wusste ich schon lange, seit Wochen. Aber ich hatte erst jetzt begriffen, was das bedeutete. Und ich hatte noch kein Geschenk für Lou, ich hatte noch nicht mal daran gedacht, was sie mögen würde. Heute war schon Dienstag - ich hatte nur noch drei Tage Zeit. Und heute hatte ich noch Hausaufgaben zu erledigen. Warum musste so etwas immer mir passieren?


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