40. Eine lange Nacht

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Mein unsäglicher Zimmerkollege hatte abgeschlossen. Die Tür war zu, und sein Schlüssel steckte wahrscheinlich, weil meiner passte nicht einmal einen Zentimeter hinein, von aufsperren war gar keine Rede. Das warme, wattige Gefühl, das mich vor wenigen Minuten noch eingehüllt hatte - ein Überbleibsel von Strawberry Dream und Thomas' ruhiger Zuneigung - war verflogen. Nun war ich nur noch müde und wollte ins Bett - wenn diese verfluchte Türe sich nur öffnen ließe! Ich klopfte, etwas nachdrücklicher als ich das eigentlich geplant hatte, und das Geräusch hallte durch den leeren Flur. Mist, mit meinem Glück hörte das einer der Lehrer. Oder jemand aus den Nebenzimmern. Es war weit nach Mitternacht, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich mächtig Ärger bekommen würde, wenn mich jetzt jemand ertappte.

Ich klopfte noch einmal, leiser, aber leider bequemte sich Valentin, der wahrscheinlich seelenruhig in seinem Bett lag und tief und fest schlief, nicht dazu, aufzustehen und mir zu öffnen. War auch irgendwie kein Wunder.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür und ließ mich zu Boden sinken, um meine nächsten Schritte zu überdenken, aber irgendwie hatte ich keine Idee, die mir weiter helfen konnte. Durchs Fenster klettern konnte ich ja wohl auch nicht. Und irgendwo in einem Gemeinschaftsraum auf einer Couch zu liegen war auch nicht das bequemste, oder das unauffälligste. Aber es blieb mir wohl keine andere Wahl, außer natürlich, ich wollte die Nacht hier auf dem Boden verbringen.

Ich war so in meine müden, trübseligen Gedanken vertieft, dass ich die Schritte auf dem Flur erst hörte, als es schon zu spät war, zu flüchten. Verdammt. Das Date war so gut gelaufen, und jetzt sowas! Verzweifelt krümmte ich mich noch mehr zusammen - der Flur war dämmrig, und ich saß vor einer Tür, das heißt in einer kleinen Vertiefung. Vielleicht würde mich wer auch immer da jetzt kam nicht sehen wenn ich mich ganz klein machte und leise war?

Die Schritte kamen näher, und näher - und hielten direkt vor mir an. "Na, wen haben wir denn da?", sagte eine mir bekannte Stimme. "Oh, Hallo Simon," murmelte ich und sah zu ihm auf. Er wirkte viel zu wach für die Uhrzeit. "Was machst du denn hier?", meinte ich, bevor er vielleicht auf die Idee kam, mich das selbe zu fragen. 

"Naja, morgen -  oder heute, wenn du's genau nimmst - ist ein American Football Spiel. Und zwar erst spät am Abend, also muss ich heute auch schon lang wach bleiben. Ich bin auch nicht müde, deswegen gehe ich spazieren. Die Badboy Academy ist nachts immer so schön leer - da trifft man die interessantesten Gestalten. So wie dich.", antwortete er breitwillig, und zwinkerte mir zu. Er trug ein weißes Hemd, das ein bisschen zerknittert wirkte und im spärlichen Licht seine schwarzen Haare noch dunkler aussehen ließ. Einen Moment herrschte Stille, dann sprach er weiter. "Wo wir schon bei dir sind - warum sitzt du eigentlich zu so später Stunde vor einer  Türe?"

"Ich bin ausgesperrt worden! Aus meinem eigenen Zimmer, stell dir das einmal vor!", schmollte ich und gestikulierte zur Tür hinter mir. "Valentin hat einfach abgeschlossen, und den Schlüssel stecken gelassen! Und dabei war der Abend doch so schön!".

"Ani, hast du schon versucht, ihn zu wecken?". Simon runzelte die Stirn und hockte sich vor mir auf den Boden, und beugte sich zu mir vor. "Und wo kommst du eigentlich her... hast du getrunken?".

"Ich hatte nicht viel, nur ein bisschen Strawberry Dream. Und ich hab geklopft, aber er macht nicht auf, der Fiesling!", antwortete ich mehr oder weniger wahrheitsgemäß. Simon schüttelte seinen Kopf: "Hast du Valentin schon angerufen?".

Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln: "Anrufen?".

"Mit deinem Handy, Ani. Damit er aufwacht und die Tür aufsperren kann. Hast du es denn nicht dabei?" Simon konnte seine Belustigung nicht verbergen; auch wenn seine Stimme geduldig und ruhig blieb, seine Mundwinkel zuckten verräterrisch.

"Oh", entkam es mir. Mein Telefon. Natürlich hatte ich es eingesteckt, wer ging heutzutage schon ohne aus dem Haus? Aber selbst war ich nicht auf die Idee gekommen, das zu versuchen. Spontan warf ich meine Arme um Simon, der dabei in seiner hockenden Position das Gleichgewicht verlor, und vergrub mein Gesicht in seiner Schulter. Er roch nach süßen, tropischen Früchten und warmem Sand, irgendwie vertraut, aber an ihm ungewohnt. Wir kullerten beide vollendens zu Boden, und ich kicherte vergnügt.

"Danke, Simon", murmelte ich. Wie ein Seestern am Boden liegend fischte ich mein Handy aus der Tasche, suchte für einen Moment die richtige Nummer, und tippte dann auf "Anruf".

Ich wartete, angespannt. Ein, zwei, dreimal erklang der Warteton, dann meldete sich eine Stimme, der man anhörte, dass ihr Besitzer eben noch geschlafen hatte: "Hallo?"

"Valentin! Ich bin's Ani. Ich...", noch bevor ich weiterreden konnte unterbrach er mich auch schon. So typisch. Unwillkürlich musste ich lächeln.

"Ani? Ani, alles okay bei dir? Wo bist du, soll ich dich holen kommen?". Die Stimme meines Mitbewohners war rau vom Schlaf, aber ich konnte deutlich hören, dass er sich Sorgen um mich machte. Irgendwie war ich erleichtert, dass er nicht verärgert war, das wäre das letzte gewesen, das ich jetzt gebraucht hätte.

"Hey, ähm ich steh vor unserer Zimmertüre. Aber dein Schlüssel steckt, also komm ich nicht rein. Machst du mir auf?". Stille am anderen Ende. "Bitte?" Immer noch keine Reaktion von Valentin.

Dann: "Ich komme. Moment." Ich atmete erleichtert auf. "Danke", murmelte ich und nahm das Handy vom Ohr, um die Arme wieder auszustrecken. Simon warf mir einen belustigten Blick zu. "Du liegst heute aber gern am Boden."

Ich zuckte nur die Achseln. Es war bequemer als stehen. Und der Boden war sowieso sauber genug, dass man drauf essen konnte.

Schritte, Licht unter der Tür, dann öffnete sich die bisher verschlossene Pforte zu meinem Zimmer - zu meinem Bett.

Das erste, was mir auffiel, war, dass Valentin kein Shirt trug. Warum auch? Er war muskulös wie ein Supermodel, ich konnte sein Sixpack von hier sehen. Und was für eine Aussicht das war. Ich starrte wohl ein bisschen. Er war keineswegs einer dieser aufgeblasenen Bodybuilder, und auch Thomas, so schien mir, war weitaus breiter gebaut. Seine kurzen dunkelbraunen Haare standen in unregelmäßigen Abständen wild vom Kopf ab, und er wirkte selbst jetzt noch so, als wäre er gerade in diesem Moment aufgewacht. Er suchte meinen Blick, und seinen ungewöhnlichen grünen Augen trafen meine. In meinem Bauch rumorte es, und ich blinzelte verwirrt. Hatte ich doch zu viel getrunken?

Erst jetzt schien Valentin Simon zu bemerken, der sich lässig an die gegenüber liegende Wand gelehnt hatte. Sein milder Blick wurde mit einem Mal kalt, und die Temperatur am Flur schien abrupt abzusinken. Plötzlich fühlte ich mich am Boden seltsam fehl am Platz, und bemühte mich, schnell auf die Beine zu kommen.

"Danke, dass du mit mir gewartet hast, Simon", sagte ich in die gereizte Stille zwischen den beiden Jungen hinein. "Gute Nacht Ani. Schlaf gut", erwiderte dieser, aber er bewegte sich nicht vom Fleck. Valentin stand auch wie angewurzelt in der Tür, sein Blick eisern.

"Komm schon, lass uns gehen", murmelte ich, und zog meinen wiederstrebenden Mitbewohner am Handgelenk in unser Zimmer. Ich drehte mich um, und sah aus den Augenwinkeln noch einmal zu Simon zurück, der immer noch im Gang stand und abwesend seinen verdrehten Hemdkragen richtete. Der knallrote Lippenstiftabdruck war auf dem weißen Stoff mehr als nur deutlich zu erkennen, und ich fragte mich unwillkürlich, wie viel von dem, was mir Simon heute erzählt hatte, gelogen gewesen war. Wer hatte wohl diese Flecken hinterlassen?

Die Tür fiel ins Schloss, und ich wandte mich wichtigeren Problemen zu. Und zwar Valentin, der immer noch ohne Shirt, dafür mit überkreuzten Armen und finsterer Mine auf mich wartete.

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