61. Champagnergefühle

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Die Schritte kamen näher und näher, unnatürlich laut auf den Fliesen, sodass sie an den Wänden wiederhallten. Ich hatte die Knie an den Körper gezogen lauschte angespannt auf jedes Geräusch. Ich saß auf dem Toilettendeckel, sodass man nicht sehen konnte, wer in meiner Kabine war, und um ehrlich zu sein hatte ich keine große Lust, hier ertappt zu werden. Ich hielt die Luft an, um mich nicht durch ein Geräusch zu verraten. Die Schritte verharrten direkt vor meiner Toilettenkabine. Jemand hatte mich, wie es aussah, gefunden. Na toll.

"Ani? Bist du da drin?", fragte eine Stimme auf der anderen Seite der Klotüre und ich zuckte zusammen. Ich wusste, wer da vor der Türe stand.

"Hey Vali", antwortete ich, und verzog das Gesicht, als ich merkte, wie müde und niedergeschlagen ich klang. Trotzdem öffnete ich, damit wir wenigstens nicht durch die knallorangene Trennwand miteinander reden mussten. "Wie hast du mich gefunden?"

"So schwer war es nicht", meinte er, und fuhr sich lässig durch sein glänzendes dunkelbraunes Haar. Er trug schwarze Jeans im used-Look und einen dunkelgrünen Hoodie, und die Farbe brachte seine intensiven Augen noch mehr zum Leuchten. Valentin lehnte sich zurück, gegen die Wand, und hakte seine Daumen in die Tasche seines Pullis, der sich um seine breiten Schultern spannte, als er mit den Achseln zuckte. "Ich habe nur den nächstbesten Ort gesucht, an dem dich weder Lou noch Jenny finden würden. Und das Jungsklo hier oben benutzt quasi nie jemand."

"Ich bin wohl ziemlich berechenbar", murmelte ich ein bisschen irritiert und rieb mir mit beiden Händen über mein Gesicht. Dann rappelte ich mich auf. Valentin lächelte mich an, und für einen Moment war es, als wären alle meine Sorgen wie weggewischt. In meinem Bauch flatterte es gefährlich, und mein Herz setzte spontan einen Schlag aus, bevor es dann mit verpoppelter Geschwindigkeit weiterschlug. Sein Lächeln war warm und verständnisvoll, und auch wenn mich seine Züge an Jamie erinnerten, war es nicht mit der schiefen, sarkastischen Grimasse zu vergleichen, die dieser oft trug. Das war einer der größten Unterschiede zwischen den beiden Brüdern, ihr Lächeln.

"Hast du eine bessere Idee, wo ich mich verkriechen kann? Mein Zimmer ist momentan nicht so eine tolle Option", fragte ich ihn, während wir die Toiletten verließen und langsam den Korridor entlangschlenderten, der wie leergefegt war. Er blickte mich überrascht an, und zögerte kurz, bevor er antwortete. "Klar. Also an deiner Stelle würde ich es auf dem Gelände versuchen, da gibts genug Orte, an denen nie jemand vorbeikommt", meinte er. Ich sah unauffällig durch das nächste Fenster, an dem wir vorbeikamen, und stellte fest, dass es draußen immer noch in Strömen regnete. Valentin musste meinem Blick gefolgt sein, denn er fügte trocken hinzu: "Naja, in Anbetracht des Wetters wohl doch lieber Plan B. Auf in die Bibliothek"


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Warum die Badboy Academy überhaupt so eine große Bibliothek hatte war mir ein Rätsel, denn es schien sie kaum jemand zu benutzen, mal abgesehen von Frau Billa, die dafür bekannt war, Strafarbeiten mit Recherche-Zwang auszuteilen. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu meinem ersten Abstecher in den Ort. Jamie hatte mich geküsst. Und Thomas und ich hatten unser erstes Gespräch gehabt, wenn man das so nennen konnte. Wenigstens schien momentan keiner der beiden hier zu sein - es herrschte eine beinahe drückende Stille.

Valentin und ich hatten auf den Weg hierher niemanden getroffen, und ich war heimlich froh darüber. Wir schlenderten zwischen den zahllosen Regalen durch, bis wir schließlich, ganz hinten, zwischen den Geschichte-Büchern, uns an einem Schreibtisch niederließen. Valentin setzte sich rittlings auf seinen Stuhl und verschränkte seine Arme über der Stuhllehne. Seine grünen Augen musterten mich eindringlich, als ich mich ihm gegenüber niederließ.

"Willst du darüber reden?", fragte er vorsichtig. Das war eigentlich eine gute Frage - in den letzten Tagen war viel zu viel passiert. Thomas, Maja und Lou, Simon - allein bei dem Gadanken daran schwirrte mir der Kopf. "Ich weiß nicht", gab ich leise zu. "Ich habe das Gefühl, ich weiß gar nicht mehr, was überhaupt los ist. Ich hätte nie gedacht, dass Lou so fies sein könnte. Und Maja. Dass Thomas... naja, du hast ja gesehen, was auf der Brücke passiert ist. Der Einzige, der von Anfang an klargemacht hat, was er will, ist Jamie." Ich musste unwillkürlich lachen. Valentin zuckte die Schultern. "Wir haben alle unsere schlechten Seiten. Du und ich nicht ausgeschlossen, nehme ich mal an", sagte er. Und er hatte recht. Natürlich.

"Ich habe mit Simon geschlafen. Glaub' ich zumindest", platzte ich heraus, bevor ich es mir anders überlegen konnte. "Okay?", gab er zurück, offensichtlich überrascht, und wartete darauf, dass ich noch etwas sagte. "Ich wollte nur, dass du das weißt", murmelte ich, ein Echo der Worte, die er mir nach seinem Geständnis auf der Halloween-Party gesagt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht darüber nachgedacht, was ich wirklich wollte. Thomas, und meine Beziehung zu ihm war wie eine unüberwindliche Mauer zwischen uns gestanden. Jetzt war die Sache anders.

Ich empfand etwas für Valentin, ja. Er konnte nervig sein oder süß, er war beschützend und unordentlich, aber dieses prickelnde Gefühl, das mich ergriff, wenn wir einander nahe waren, ließ mich alles andere vergessen. Schmetterlinge im Bauch war ein viel zu klischeehafter, aber trotzdem passender Ausdruck dafür, was mit mir passierte, wenn er mich anlächelte. Valentin verstand mich, auch wenn ich gerade selbst nicht wusste, was mit mir los war. Zwei Wochen waren keine endlos lange Zeit, aber ich hatte das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.

Aber wollte ich überhaupt gerade mit jemandem zusammensein? Je länger ich drüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass Thomas und ich zum größten Teil nur pro forma zusammen gewesen waren. Wir hatten uns kaum wie ein Pärchen verhalten, und, abgesehen von dem einen Date, auch kaum Zeit zusammenverbracht, die über normale Freundschaft hinausging. Mit Valentin konnte das anders sein, das spürte ich ganz deutlich. 

"Hey, Ani?", fragte er mich, und holte mich damit abrupt wieder aus meinen Gedanken zurück. Ich sah auf, und blickte ihm ins Gesicht. Er wirkte ein bisschen nervös, aber entschlossen. "Hast du vielleicht Lust, mit mir auf den Weihnachtsball zu gehen?"

Überraschung musste sich in meinem Gesicht spiegeln, denn er fügte schnell hinzu. "Es muss kein Date sein. Wir können nur gemeinsam gehen, als Freunde. Ohne Verpflichtungen. Außer du willst lieber..."

Bevor er noch weitersprechen konnte, unterbrach ich ihn. "Das wäre toll. Und... ich fände es schön, wenn es ein Date wäre." Ich fühlte die Wärme in meine Wangen steigen, und wusste, dass ich gerade unbeschreiblich rot war, aber das war okay. Das Lächeln, das mir Valentin schenkte, war atemberaubend, und mein Herz klopfte mir bis in meine Kehle.

Ich weiß nicht mehr, ob ich bewusst eine Entscheidung traf, oder einfach meinen Gefühlen folgte, aber ich lehnte mich vor, legte meine Hände auf seine Arme, die immer noch auf der Lehne seines Stuhles lagen, und einen Augenblick später küsste ich ihn.

Nach den letzten Monaten auf der Badboy Academy hatte ich geglaubt, schon etwas Erfahrung gesammelt zu haben. Ich hatte geglaubt, zu wissen, was mich erwartete. Aber in dem Moment, als sich unsere Lippen berührten, realisierte ich plötzlich, dass es etwas ganz anderes war, zu küssen, als geküsst zu werden. Oder vielleicht war es auch Valentin, der so anders war.

Es war ein schönes, ein triumphierndes Gefühl. Wie ein Sonnenstrahl, wie der Moment auf dem höchsten Punkt einer Achterbahn, kurz bevor die atemberaubende Fahrt richtig beginnt. Ich spürte immer noch dieses Flattern, wie perlender Champagner tief in meinem Inneren. Pures Glück. Liebe, vielleicht.

Und ich wusste, mit eindeutiger Sicherheit, dass Valentin und ich alles daran setzen würden, dieses "vielleicht" in ein "bestimmt" zu verwandeln. Gemeinsam.

Valentin vertiefte den Kuss, lächelnde Lippen auf meinen.




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