36. Namenlose Ärgernisse

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Wie viel Pech kann ein einziger Mensch eigentlich haben? Ehrlich, wenn es darum ging, mit irgendwem das Zimmer zu teilen, dann hatte ich nicht nur ein Wochenende mit Jamie erdulden müssen, nein, jetzt durfte ich auch noch zwei Wochen mit dem größten Arsch der Schule verbringen. 

Anscheinend hatte er diesen Nachmittag Sport gehabt, denn als ich vom Kunstunterricht zurückkehrte stank das Zimmer wie eine Umkleidekabine drückend nach Männer-Deo und Schweiß. Damit aber nicht genug, denn mein verehrter Mitbewohner hatte seine Schuhe und Sportklamotten im ganzen Zimmer verteilt, sodass ich über irgendetwas stolperte und mitsamt meinen Schulsachen zu Boden ging. 

Leise vor mich hin schimpfend rappelte ich wieder hoch, in der Erwartung, dass jetzt eine der beiden Türen aufgehen würde und der Typ wenigstens sein Gesicht zeigen würde, um sich zu überzeugen, dass ich mir nicht den Hals gebrochen hatte, aber nein, nichts rührte sich. Wahrscheinlich war er schon wieder weg. Nun gut, wenigstens hatte ich das Bad also für mich.


*+*+*


Nach dem ich eine lange, entspannende Dusche genommen und mir ausgiebig meine Haare gewaschen hatte wickelte ich mich in das größte, flauschigste Handtuch das ich finden konnte und tapste leise vor mich hin summend in mein Zimmer, um mir frische Klamotten zu suchen. 

Es war zwar erst Mitte Oktober, und so richtig kalt war es noch nicht, aber ich hatte einfach schon Lust auf etwas kuschelig-warmes. Also schlüpfte ich in eine schwarze Leggings und war gerade dabei, meinen langen dunkelroten Lieblingspulli aus dem Kasten zu zupfen, als ich hinter mir ein Räuspern hörte. 

Ich wirbelte herum, den Pulli wie eine Waffe in den Händen. Da auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, Kopfhörer auf den Ohren, lag er. Mein neuer Mitbewohner. Wie als hätte er schon die ganze Zeit dort gelegen. Während ich mich angezogen hatte. Oh. Fantastisch.

"Bist du eigentlich ganz bescheuert?", schrie ich ihn an. "Ich meine, gehts noch? Kannst du nicht wenigstens was sagen, wenn ich ins Zimmer komme? Oder...". Ich fuchtelte wild mit dem Pulli herum, aber ich wusste nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Ich war einfach nur sauer, und unangenehm berührt. Ich hatte mich gerade vor einem quasi wildfremden Typen angezogen! Und der hatte nicht mal was dazu gesagt! Ausgerechnet der war der erste Junge, der mich nackt sah, das war doch...! Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln, und ich blinzelte wütend. 

Mit einer langsamen Bewegung nahm er die Kopfhörer ab, setzte sich auf und fuhr sich durch sein zerknautscht wirkendes Haar. Sein Blick traf meinen, kurz, und dann wanderte er meine Form hinunter, und mir wurde bewusst, dass ich den Pulli noch immer in den Händen hatte und nur meinen schlichten weißen BH trug. Fantastisch. Mit einer schnellen Bewegung zerrte ich das Kleidungsstück endlich über meinen Kopf, wobei ich meine immer noch feuchten, sorgsam gekämmten Haare in ein Vogelnest verwandelte. Aber das war mir im Moment mehr als nur egal.

Das leise Lächeln, das um seine Lippen spielte, war wie eine Verhöhnung. 

"Du bist wirklich das Letzte!", spie ich aus, dann wirbelte ich herum, schnappte mein Handy und rauschte aus dem Raum. Einen Moment später ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss krachen. 


*+*+*


Ich rannte fast den Gang entlang, so eilig hatte ich es, Abstand zwischen mich und diesen Idioten zu bringen. Ohne viel nachzudenken schlug ich den Weg zu den Informatikräumen ein - Thomas hatte mir heute beim Mittagessen erzählt, dass er dort irgendetwas zu erledigen hatte, also hoffte ich einfach nur, dass er das Problem, was auch immer es war, noch nicht gelöst hatte und noch da war.

Ich hatte Glück, denn Thomas war gerade dabei, seine Sachen zusammenzupacken, als ich auftauchte. Ein warmes Lächeln schlich über seine scharfen Züge, und unwillkürlich schlug mein Herz ein bisschen schneller. Nur einen Wimpernschlag später lag ich in den Armen meines Freundes, und ich fühlte mich gleich besser. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Schulter und atmete tief durch, und er drückte einen flüchtigen Kuss auf meine Stirn. 

Als ich erst einmal keine Anstalten machte, mich wieder von ihm zu lösen - es war einfach ein viel zu schönes Gefühl - strich Thomas mir sanft durch mein Haar, und ich konnte nicht anders, als mich gegen seine Hand zu schmiegen. Ich hatte das noch nie so gehabt, diese körperliche Nähe, die Zärtlichkeit. Von niemandem. Meine Eltern waren jetzt nicht unbedingt diejenigen, die ihre Kinder ständig umarmten, und auch mit meinen Freundinnen - wenn man es einmal von Lou und ihren Eigenheiten absah - waren auch nie so gewesen. 

Jetzt genoss ich einfach jeden Moment, den ich so nah bei ihm verbringen konnte. Endlich hob ich meinen Kopf uns sah zu ihm auf. Seine graublauen Augen trafen meine, und ich spürte, wie mein ganzer Frust und meine Anspannung von mir abfiel. Meine Hände hatten ihren Weg zu Thomas' Schultern gefunden, und ich stellte mich prompt auf meine Zehenspitzen, um ihn zu küssen.

Ich war, egal wie ich mich streckte, nicht groß genug, aber Thomas kam mir entgegen und letzte seine Lippen auf meine. Es war ein schönes Gefühl, ihn zu küssen, nah und warm, und ich musste lächeln, unwillkürlich. 

Mein Freund vertiefte den Kuss, neigte den Kopf, und ich schloss die Augen, um mich nur darauf konzentrieren zu können. 

Irgendwann lösten wir uns voneinander, und er zog mich zu einem der Sofas, die in einer Nische gleich um die Ecke standen. Der Gang war wie ausgestorben, also waren wir unter uns. Manchmal hatte es Vorteile, dass die Schule so groß und alles so furchtbar weitläufig war. 

Thomas setzte sich, ich schmiegte mich an seine Seite und er legte einen Arm um mich. "Na, geht's dir jetzt besser, Ani?", fragte er mich, und ich ich blinzelte einen Moment lang verwirrt, bevor mir wieder einviel, wer daran schuld war, dass ich gerade hier war. Der Idiot, mit dem ich nun ein Zimmer teilte. 

Sofort kochte eine Mischung aus Ärger und Scham in mir hoch. "Ich bin mit einem vollkommenen Trottel in einem Zimmer! Er bildet sich total was auf sein Aussehen ein, ist total unordentlich und lässt überall seine Sachen liegen, er hat im Wohnzimmer Deo versprüht sodass man fast nicht atmen kann und heute ist mir einfach etwas total Blödes passiert!"

Thomas schenkte mir ein mittleidiges Lächeln: "Klingt ja wirklich, als hättest du echt Pech gehabt...". Ich nickte und vergrub mein Gesicht in seiner Schulter, kuschelte mich noch ein bisschen näher an ihn heran. "Und wie heißt dein neuer Mitbewohner?", wollte er dann von mir wissen. "Vielleicht kenne ich ihn ja?"

"Ich kenne seinen Namen nicht, aber er kennt mich. Ich weiß nicht, woher. Und ich bin noch nicht dazu gekommen, ihn zu fragen", gab ich zurück. Natürlich, das hatte ich ganz vergessen, weil ich mich ja vor ihm angezogen hatte. 

"Dann fragst du ihn halt später, ist ja nichts dabei. Mach dir keine Sorgen, das wird schon. Die meisten Typen hier sind eigentlich ganz nett, wenn du sie genauer kennenlernst. Die wollen nur zuerst den großen Mann markieren, aber der kriegt sich wieder ein."

Thomas hatte wohl recht. Vielleicht war das alles nur ein Missverständnis. Das hoffte ich jedenfalls, sonst würde das wirklich lange zwei Wochen werden. Und der erste Tag war noch nicht einmal vorbei.





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