53. Geisterstunde

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"Ani", rief eine Stimme hinter mir, so laut, dass ich sie auch über die Musik der Tanzfläche und das ohrenbetäubende Pochen meines Herzens hören könnte. Ich drehte mich nicht um, sondern lief weiter. Sollte Thomas doch rufen, ich hatte genug gesehen. Ich wollte seine Ausflüchte und Ausreden nicht hören. Ich wollte nicht, dass er die Tränen in meinen Augen sah.

Das schwarzsamtige Labyrinth war jetzt ein Vorteil; überall anders hätte mich Thomas bestimmt eingeholt, selbst wenn ich so schnell lief, wie ich konnte. Aber hier war es unmöglich, mir zu folgen, sobald er mich aus den Augen verloren hatte - ich wusste ja selbst nicht, wohin mich die vielen Abzweigungen führten.

Irgendwann war aus meinem Laufen ein langsames Stolpern geworden. Ich hatte meine Schuhe fallen gelassen, als ich Thomas gesehen hatte, und der Boden war kalt unter meinen bloßen Füßen. Ich schlang meine Arme um mich selbst. Mein Gesicht fühlte sich geschwollen an, obwohl ich nicht viel geweint hatte, und ich hatte das dringende Bedürfnis, mir die Augen zu reiben. Das konnte ich aber nicht, ich musste an mein Make-up denken. Ich fühlte mich müde und leer. Von der guten Laune, mit der ich den Abend begonnen hatte, war keine Spur mehr. Es war immer noch Halloween, aber ich hatte keinen Spaß mehr daran. Mir war kalt und elend zumute.

"Ani!", sagte da jemand, direkt hinter mir, und ich wirbelte erschrocken herum. Es war Valentin, der mich besorgt musterte. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Das unheimliche Licht ließ seine seelenvollen grünen Augen strahlen, und ich schluckte schwer. Er öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen, und in diesem Moment kam Jamie um die Ecke. Er sah aus als hätte er heute Abend schon viel Spaß gehabt, aber sein Lächeln wirkte etwas gezwungen, als er Valentin und mich da stehen sah. "Vali? Kommst du kurz? Es... es ist etwas passiert, mit, du weißt schon." Seine Stimme war hoch und unsicher, beinahe brüchig. Ich fragte mich, was seine sonst so undurchdringliche Maske so ins Wanken gebracht hatte.

Valentin warf mir einen prüfenden Blick zu, dann schüttelte er den Kopf. "Du frierst ja." Mit einer fließenden Bewegung zog er das schwarze Cape von seinen Schultern und legte es mir um. Es war viel zu lang für mich, und reichte bis auf den Boden, aus einem leichten, geschmeidigen Stoff gemacht, der mich vollständig einhüllte. Der Umhang strahlte eine gewisse Wärme ab, und ich zog ihn sofort enger um mich.

"Falls du reden willst, dann bin ich gleich wieder da", sagte Valentin ruhig und lächelte mir schwach zu, dann trat er zu seinem Bruder, der ihn am Arm packte und hastig um die nächste Ecke und aus meinem Blickfeld zog. Ich atmete erleichtert auf. Ich war absolut nicht bereit für dieses Gespräch, und war mehr als nur ein bisschen dankbar, dass ich es nicht gerade jetzt führen musste. Ich drehte mich um, und maschierte in entgegengesetzte Richtung davon.


*+*+*+*


Die Schläge einer gigantischen Turmuhr hallten durch den Raum und verkündeten, dass es Mitternacht war. Auf der Tanzfläche kam Jubel auf, als die ersten Tänzer der Mitternachtseinlage die Bühne betraten. 

Maja saß neben mir auf dem Boden und sah trübselig dem fröhlichen Treiben weiter vorne zu. Wir hatten uns ans Ende eines Ganges gesetzt, sodass wir zwar sehen konnten, was auf der Tanzfläche und der Bühne vorging, aber weit genug weg waren, dass wir miteinander reden konnten. Maja nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Drink, verzog ihr Gesicht und hielt ihn dann mir hin. Ich war mittlerweile nüchtern genug, um zu realisieren, dass Alkohol momentan wahrscheinlich nicht das Beste für mich war, also nippte ich nur daran, bevor ich ihr das Glas zurückreichte.

"An Halloween hat er das erste mal 'Ich liebe dich' gesagt, weißt du? Und ich hab' mir gedacht, das muss er sein, das ist der Typ, mit dem ich mein Leben verbringen will. Er hat so ernsthaft geklungen. Und ich... ich liebe ihn ja immer noch... Aber er...". Maja nahm einen weiteren tiefen Schluck von ihrem Drink und rang offensichtlich damit, nicht zu weinen zu beginnen. Ihr rotes Haar in Kombination mit dem bleichen Make-up ließ sie geradezu gespenstisch wirken.

"Simon liebt dich bestimmt immer noch. Es ist doch normal, dass es in einer Beziehung gute und schlechte Phasen gibt. Aber ihr übersteht das schon, gemeinsam", versuchte ich vorsichtig, ihr Mut zu machen. Als wäre ich eine große Expertin in Liebesangelegenheiten! Als Maja nur seufzte, legte ich ihr den Arm um die Schultern, und versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen.

"Valentin hat mir gesagt, dass er mich mag. Und Thomas... er hat mich betrogen. Heute Abend. Ich meine, es war nur ein Kuss, aber... ich habe ihn dabei gesehen." Die Rothaarige machte große Augen. "Ich fass' es nicht", murmelte sie leise. "Wie geht's dir damit?"

Ich zuckte mit den Schultern. Das war eine gute Frage. Die Antwort darauf wusste ich selber noch nicht. Ich war enttäuscht, und traurig, ja, aber hauptsächlich war ich mit der Situation überfordert. Ich fühlte mich schuldig: Hatte ich Thomas nicht genug Zeit gewidmet? Hatte ich ihm das Gefühl gegeben, dass ich ihn nicht wollte? Er hatte mich betrogen, aber hatte ich das nicht irgendwie auch, als ich Valentin nicht frei heraus gesagt hatte, dass ich seine Gefühle nicht erwiederte? Das war alles viel zu kompliziert, und bevor ich nicht schlau aus meinen Gefühlen geworden war, hatte ich keine Chance, dieses Chaos zu entwirren.

Ich richtete den Blick auf die Bühne, wo gerade ein neues Lied begann. Eine einzelne Gestalt stand auf der sonst leeren Bühne, den Rücken dem Publikum zugedreht, getaucht ins grelle Licht der Scheinwerfer, ein Mädchen in einem weißen Nachthemd. Die ersten Takte der Musik erklangen, und als sie sich umdrehte, erkannte ich, dass es Lou war, die da tanzte. 

Sie blieb nicht lange alleine. Während das Lied immer mehr an Fahrt gewann betraten immer mehr Tänzer die Bühne, bis die Musik anschwoll und sie sich alle zu Boden warfen. Nur Lou blieb stehen, während der letzte Neuankömmling auf sie zutrat. Er war ganz in schwarz gekleidet und trug eine Maske. Was nun folgte, war ein Tanz wie ein Wirbelsturm, eine perfekt ausgeführte Choreographie, die das Paar über die Körper der anderen hinweg in einen atemberaubenden Reigen führte. Einer nach dem anderen erhoben sich die anderen, und als die Scheinwerfer plötzlich ausgingen sah man die gespenstischen Fratzen, die die wiederauferstandenen Tänzer trugen.

Ein letztes Aufbranden der Musik, und der Tanz endete, genau so abrupt wie er begonnen hatte. Lou lag in den Armen des Maskierten, und ich konnte selbst von unserem Platz weit hinten kennen, wie zufrieden und stolz die Französin war. Ich hatte nicht gedacht, dass sie tanzen konnte.

Die Menge jubelte, und Lous Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Sie griff hinauf zum Gesicht ihres Tanzpartners und löste die Maske. "Happy Halloween!", rief sie fröhlich, und Simon, der sie immer noch in den Armen hielt, gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor sie beide in atemloses Kichern ausbrachen.

Ich spürte, wie sich Maja neben mir versteifte, als sie ihn auch erkannte. "Er hat mir nicht mal davon erzählt", flüsterte sie betroffen, und als ich zu ihr hinüber sah, flossen die Tränen bereits über ihre Wangen. Sie umklammerte ihren Drink mit beiden Händen, bevor sie ihr Glas in einem entschlossenen Zug leerte. Auf der Bühne begann das nächste Lied.

"Hey, wie wäre es , wenn wir von hier verschwinden? Ich glaube, wir haben beide genug von dieser Party", schlug ich vorsichtig vor. 

Die Rothaarige nickte und rappelte sich schwankend auf. "Es ist nichts, oder? Ich bin einfach nur eifersüchtig. Ist es nicht immer die eifersüchtige Freundin, die die Beziehung ruiniert? Eigentlich alles nur meine Schuld", murmelte sie, und ich tat mein Bestes, sie zu trösten, während wir langsam dem Ausgang entgegen gingen.

"Happy Halloween", dachte ich mir finster, als wir die Stiegen hinauf zu Majas Zimmer stiegen. Diesen Abend hatte ich mir doch anders vorgestellt. Er hatte zu viele unangenehme Überraschunge bereitgehalten, zu viele Fragen aufgeworfen, auf die ich mir keine Antworten geben konnte.

Eine von ihnen quälte mich besonders: Wer war es bloß, den Thomas geküsst hatte?



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