Küsse auf dem Dach

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Aus meinem Bauch bahnte sich ein Kichern nach oben, dass ich nicht bremsen konnte. Es war komplett unangebracht und ich fühlte mich auch gar nicht belustigt, aber es war, als hätte mein Körper ein Eigenleben entwickelt und wüsste jetzt nicht, wie er all die Gedanken und Gefühle, die mich überspülten, ausdrücken sollte.

Zu dem Lachen kam jetzt auch noch Schluckauf. Ed sah nicht glücklich aus. Ich wollte ihm so gerne sagen, wie gut es mir hier gefiel, aber im Moment hatte ich mit mir selbst zu tun. Es hing definitiv damit zusammen, dass ich mir heute zu viel Wein genehmigt und dass Ed mich vorhin aus dem Schlaf gerissen hatte. Andernfalls würde ich nicht so stark auf seine körperliche Anwesenheit reagieren. Das Umfeld tat sicher sein übriges. Ich musste mir mit Gewalt in Erinnerung rufen, dass vor mir mein bester Freund Ed Sheeran stand. Der, dem ich als Kind immer die Brille geklaut hatte, nur damit er mich verfolgte und kitzelte. Der, der mich als Kind einmal einfach mitten im Einkaufszentrum stehen gelassen hatte, weil ein Mädchen in seinem Alter angeboten hatte, ihn mitzunehmen. Außerdem war er Ed Sheeran, der Sänger und Songwriter, der mittlerweile ein weltweit bekannter Superstar war und jeden Abend eine andere Frau abschleppte.

Eben jener Ed Sheeran kam gerade auf mich zu und legte sanft seine Hände auf meine Schultern. Ich registrierte jede Unebenheit seiner Haut, die Narbe auf seiner Wange, die Bartstoppeln um seinen Mund, seine schön geschwungenen Lippen.

Nein, ich riss meinen Blick von seinen Lippen los. Sein Ohr war viel interessanter anzuschauen. Oder der Schornstein hinter ihm.

»Claire, schau mich an.« Seine Stimme war sanft und tief und vibrierte in mir nach. Ich biss mir auf die Unterlippe, schluckte und kam seiner Aufforderung nach. Sein Blick fuhr mir durch und durch.

»Ich möchte einfach nur mit dir zusammen etwas unternehmen. Ein Picknick. Das hast du dir doch gewünscht oder? Morgen bin ich schon wieder weg. Heute ist die letzte Möglichkeit.«

Er redete sehr schnell, wie immer, wenn er aufgeregt war. Dennoch beruhigten mich seine Worte. Noch besser wurde es, als er mich losließ und mir bedeutete, zur Decke zu gehen. Während ich es mir bequem machte, holte er aus einer Art Truhe eine Kühltasche und eine Warmhaltebox. Außerdem förderte er Gläser, Teller und Besteck zutage. Ich bemerkte, dass alles aus Plastik war und schon ziemlich abgenutzt. Er machte das hier anscheinend nicht zum ersten Mal. Eine Welle der Eifersucht durchfuhr mich, ohne dass ich verstand, warum.

Die Köstlichkeiten, die er aus der Kühltasche zauberte, lenkten mich sofort ab. Es gab dicke, grüne Oliven mit Kräutern, eine Käseauswahl, die mit Weintrauben auf einem Teller fertig angerichtet war, salzigen Schinken, mundgerecht geschnittene Melonenstücke, außerdem knuspriges weißes Baguette, dessen Duft mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ed gab mir eines nach dem anderen rüber und ich richtete es auf der Decke an. Aus der Warmhaltebox holte er dann noch kleine Schälchen mit Fleischbällchen und frittiertem Gemüse samt Dip. Hatte ich vorhin zum Abendbrot noch keinen Hunger gehabt, knurrte mir dafür beim Anblick der vielen Leckereien der Magen.

Auch den Wein servierte Ed in Plastikgläsern, allerdings sahen diese ziemlich hochwertig aus. Wir stießen an, dann stürzten wir uns aufs Essen.

Wir aßen größtenteils schweigend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, außerdem hatte ich sowieso die ganze Zeit den Mund voll. Bald war ich pappsatt, obwohl wir kaum die Hälfte geschafft hatten.

Ed rollte ein Stück Schinken zusammen und hielt es mir vor den Mund. Der Schinken war wirklich delikat, sehr zart und nicht zu salzig. Deswegen biss ich bereitwillig ein Stück ab. Anstatt mir den Rest auch noch zu geben, schob Ed es sich selbst in den Mund. Ich verfolgte seine Hand empört. Aus einem kindischen Gefühl der Rache heraus nahm ich eine Olive und hielt sie ihm ebenfalls direkt vor den Mund, bevor er sie sich jedoch schnappen konnte, zog ich meine Hand zurück und aß sie selbst.

Daraus entwickelte sich ein regelrechtes Spiel. Mal gewann ich, mal er. Wir hatten auf jeden Fall viel zu Lachen. Ich nahm eine Weintraube und wollte ihn noch einmal ärgern, doch diesmal schaffte ich es nicht, meine Hand rechtzeitig wegzuziehen, weil er sie einfach festhielt. Ich schaffte es nicht, meine Hand aus seinem Griff zu winden, also nahm er die Weintraube genüsslich aus meinen Fingern und küsste dann ganz sanft meine Fingerspitzen. Dabei unterbrach er keine einzige Sekunde den Blickkontakt mit mir. Als ich seine Lippen an meinen Fingern spürte, riss ich einen Moment die Augen auf. Im nächsten zog er mich näher an sich heran, so dass sein Gesicht plötzlich ganz nah vor meinem war.

Ich hatte keine Angst und all meine Bedenken waren wie weggewischt. Es war einfach richtig so. Es war richtig, dass Ed immer näher kam und meine Lippen mit seinen berührte. Ich zögerte nicht, wich nicht zurück. Als er seinen Kuss intensivierte, schloss ich die Augen und gab mich vollkommen hin.

Ein enttäuschter kleiner Seufzer entfuhr mir, als er den Kuss viel zu schnell wieder beendete.

Er sah mich an und lächelte sanft. »Wir haben noch so viel Zeit, meine Kleine.« Seine Worte verursachten ein seltsames Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ich versank in seinen Augen. Mir war jetzt sonnenklar, was all die Mädchen in ihm sahen, die ihn anhimmelten, ihm Liebesbriefe schrieben und sich auf seinen Konzerten die Seele aus dem Leib schrien. Endlich verstand ich es.

Ed unterbrach den Blickkontakt. Ich fühlte mich, als würde ich aus einem seltsamen Traum erwachen. Das Gefühl war noch da, genauso überwältigend wie gerade eben, doch da mischten sich jetzt auch andere Stimmen ein. Vor mir saß Ed. Mein Kumpel Ed. Mein bester Freund, den ich gerade eben geküsst hatte. Oder er mich, das war ja auch egal. Es kam aufs selbe heraus. Wir durften uns nicht küssen. Das war falsch. Ich irrte mich. Das komische Gefühl in meinem Inneren war nur Verwirrung, nichts weiter. Es durfte nichts weiter sein.

»Ed«, begann ich. Meine Stimme war ganz kratzig.

Er schüttelte den Kopf, sah mich noch immer nicht an. »Nein, sag nichts. Bitte!«

Seine Bitte sprach er so flehend aus, dass ich nachgab. Ich holte tief Luft und stand auf.

»Bitte, geh nicht.«

Ich hatte gar nicht vor zu gehen. Ich musste mich nur bewegen. Ein wenig weggehen von seiner Ausstrahlung. Von seinem Charme. Er merkte instinktiv, dass ich jetzt allein sein musste.

Viel Ausweichmöglichkeiten gab es nicht auf diesem Dach, also stellte ich mich an die Mauer und sah über die Stadt. In einem anderen Moment hätte ich die Aussicht vielleicht genießen können, doch gerade eben war ich viel zu aufgebracht, um überhaupt etwas zu sehen.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit so vergangen war, doch auf einmal spürte ich seine Anwesenheit. Dann seine Finger, die nach meiner Hand tasteten und sie schließlich mit seiner fest umschlossen.

»Wir machen nichts, was du nicht willst.« Ich hörte seine Worte und ich glaubte ihm. Das war auch nicht das Problem. Ich war das Problem. Ich war mir nicht sicher, was ich wollte. Ich hob demonstrativ meine Hand und sah darauf.

Er schaute ebenfalls darauf und öffnete seine Finger. »Das auch nicht.« Er lachte ein leises, melodisches Lachen. Machte er sich über mich lustig?

Es war ein seltsames Gefühl, als er meine Hand losließ. Als ob die Hände zusammengehörten und mir jetzt etwas fehlte. Bevor ich noch lange darüber nachdenken konnte, griff ich wieder nach seiner Hand und hielt sie nun meinerseits fest.

Ich lächelte, hob meinen Blick und begegnete seinem. Dann nickte ich kaum merklich. Ich wusste nicht, wozu ich mein Einverständnis nun genau gegeben hatte. Das würden wir gemeinsam herausfinden.


Liebe auf Umwegen || Ed SheeranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt