Arbeit

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Lustlos machte ich mich auf den Weg zur Bahn. Ich hatte noch vierzehn Minuten, für den Weg selbst brauchte ich erfahrungsgemäß acht Minuten. Also musste ich mich nicht beeilen. Ich sah interessiert in die neuesten Aushänge des örtlichen Schreibwarenhandels und spähte über die Kirchenmauer, um die Vögel, die sich jeden Morgen zu hunderten im Kirchhof tummelten, zu beobachten. Ob der Pfarrer extra Brot ausstreute, um diesen Effekt zu erreichen? Es wirkte jedenfalls sehr idyllisch.

Die letzten Meter beschleunigte ich meine Schritte dann doch. Konnte ja sein, dass der Zug heute etwas früher da war. Verpassen wollte ich ihn auf keinen Fall.

Natürlich war der Zug nicht früher da. Im Gegenteil, er kam fünf Minuten zu spät. Es würde knapp werden mit dem Anschlusszug. Mein Puls beschleunigte sich.

Erst als ich endlich in der nächsten Bahn saß, mit ein wenig rennen, hatte ich sie gerade noch erreicht, erlaubte ich meinen Gedanken, herumzuwandern. An meine Arbeit mochte ich nicht denken, also dachte ich lieber an meinen Gast, der jetzt bestimmt schon wieder selig schlummerte. Bis er wach wurde, machte ich wahrscheinlich schon wieder Mittagspause. Sehen würden wir uns trotzdem nicht mehr.

Das Mädchen neben mir in der Sitzreihe hörte über Kopfhörer Musik. Ich versuchte, herauszufinden, was sie hörte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr mein bester Freund in die Ohren sang, war gar nicht so gering. Ich grinste in mich hinein. Wenn die alle wüssten. Ich kannte Ed wahrscheinlich so genau, wie ihn sonst nur seine Eltern kannten. Wobei, eigentlich noch besser, denn ich kannte Seiten von ihm, die er seinen Eltern wahrscheinlich eher nicht verriet.

Leider war ich viel zu schnell angekommen. Mit einem prüfenden Blick auf das vordere Büro eilte ich zu meinem Platz. Zum Glück war der Chefsessel heute noch leer. Wenn ich ganz viel Glück hatte, war er heute den ganzen Tag auswärts unterwegs. Meine langweilige Kollegin Ariana nickte mir zu. Zu mehr Begrüßung war sie nie im Stande. Wir arbeiteten bereits seit über einem Jahr zusammen, aber wir hatten noch nie ein privates Wort gewechselt. Bis vor zwei Wochen hatten wir noch einen weiteren Kollegen gehabt, aber der Glückliche hatte eine andere Anstellung gefunden und war gegangen, ohne sich um uns Zurückgebliebene zu scheren. Hätte ich vermutlich nicht anders gemacht. Wenn ich mich denn mal woanders beworben hätte. Hier wusste ich wenigstens, woran ich war.

Leider war mir mein Glück heute nicht hold. Jedenfalls stand, kaum dass ich meinen Computer hochgefahren und das E-Mail-Programm geöffnet hatte, unser Chef in der Tür.

»Frau Montanay, haben Sie eine Minute Zeit für mich?«

Natürlich war das keine Frage, die ich verneinen konnte. Also erhob ich mich ergeben von meinem Stuhl und folgte dem hohen Herrn in sein Büro.

»Ich will gleich zur Sache kommen. Sie haben sicher genug zu tun.« Ich nickte pflichtschuldig. »Ab heute arbeiten Sie wieder zu dritt. Und da Sie die Mitarbeiterin mit der längsten Erfahrung sind, möchte ich, dass Sie die neue Kollegin einarbeiten.«

Ich riss die Augen auf, sagte aber nichts. Klar war ich die dienstälteste Mitarbeiterin, außer mir und der grauen Maus hatte er alle vergrault. Bevor er hier Chef geworden war, waren wir eine lustige Abteilung. Ich war gleich nach meiner Lehre hierher gekommen und von allen gut aufgenommen worden. Die Arbeit war nicht einfach, aber die Kollegen nett und die Chefin sehr fair. So ließ es sich aushalten. Doch dann war unsere Chefin schwanger geworden und hatte Probleme bekommen, sodass beschlossen worden war, jemand Neuen einzustellen. Es hatte niemand ahnen können, dass Florian Wichert ein Speichellecker und Arschkriecher war, der tyrannisch über seine Abteilung herrschte. Bereits nach wenigen Wochen hatten zwei ihrer Kollegen gekündigt und waren durch die graue Maus ersetzt worden. Offenbar sah es Herr Wichert nicht als notwendig an, zwei Personen einzustellen. Nun war auch der dritte Kollege verschwunden und ich hatte mich schon damit abgefunden, dessen Arbeit auch noch mit übernehmen zu müssen.

»Sie heißt Alexandra Bell. Sie hat vorher in der Industrie gearbeitet, also muss sie sich in unsere besonderen Strukturen erst noch einfinden. Aber ich bin sicher, Sie tun ihr Möglichstes, um ihr dabei zu helfen, habe ich recht?«

Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen. Das brachte nichts als Ärger, hatte ich oft genug bei den verflossenen Kollegen beobachtet.

Damit war ich entlassen und durfte zurück an meinen Platz gehen. Die Neue sollte in einer Stunde kommen, bis dahin musste ich wenigstens das Nötigste von heute erledigt haben. Wenn ich sie einlernen sollte, würde ich nicht mehr zu meinem Tagesgeschäft kommen. Jedenfalls nicht mehr in der normalen Arbeitszeit. Innerlich streckte ich die Zunge raus, als ich an die vielen Überstunden dachte, die auf mich warteten.

Fünf nach zehn hörte ich draußen jemanden lachen. Ich sah auf die Uhr. Sie würde doch wohl nicht an ihrem ersten Tag schon zu spät kommen. Auf die Art würde sie nicht lange hier bleiben. Wenn sie gut war, würde sie das sowieso nicht. Schon wieder so ein aufdringliches Lachen. So unnatürlich hoch und irgendwie anstrengend in den Ohren.

Nun ja, wenn sie es wirklich war, würde ihr das Lachen hier schon schnell genug vergehen.

Die graue Maus blickte zur Tür und ich tat es ihr gleich. Ich sog erschrocken die Luft ein. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, woher ich sie kannte. Eds Konzert. Unwillkürlich wanderte mein Blick nach unten zu meinem Shirt, auf dem heute natürlich kein Colafleck prangte.

Sie kam mit einem breiten Lächeln und ausgestreckter Hand auf mich zu. Ich erwiderte das Lächeln dünn und ergriff ihre Hand nur zögerlich. Entweder sie merkte nichts oder es war ihr egal. »Hi, ich bin Alexandra, ihr könnt Sanni zu mir sagen.« Sie kicherte und ich verdrehte unmerklich die Augen. Sie hatte mich wohl nicht erkannt. Kein Wunder, sie hatte an dem Abend wahrscheinlich nur Augen für Ed gehabt.



Liebe auf Umwegen || Ed SheeranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt