Selbstständig

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Erst als ich schon ein paar Straßen weiter war, überlegte ich mir, wo ich überhaupt hingehen sollte. Es fühlte sich gut an, einen praktischen Gedanken zu haben, an dem ich mich festhalten konnte. So war es leichter, zu verdrängen, was gerade geschehen war.

Ich sah eine U-Bahn-Station und eilte darauf zu. Alleine in meine Wohnung zurück wollte ich nicht. Mir fiel nur Sanni ein, zu der ich gehen konnte. Auch wenn ich ihr nicht alles verraten konnte, würde mir allein ihre Anwesenheit guttun, da war ich mir sicher. Zum Glück musste ich nicht lange auf den Zug warten.

Meine Augen brannten, obwohl ich zuletzt gar nicht mehr geweint hatte. In meinem Magen war ein seltsames Gefühl. So als hätte ich etwas ganz Falsches gegessen und mir würde demnächst schlecht werden. Ich schluckte das Gefühl herunter und konzentrierte mich lieber auf die Karte mit den Stationen, die ich schon lange auswendig herbeten konnte. Auch eine Werbung für eine Fernuni konnte meine Aufmerksamkeit eine Weile fesseln. Zuletzt studierte ich die Muster auf den zerschlissenen Stühlen, dann kam endlich die Station, von der aus ich Sannis Wohnung am schnellsten erreichen konnte.

Ich eilte aus der U-Bahn-Station und rannte auf die Straße. Plötzlich war mir kotzübel. Bis zu Sanni war es nicht mehr weit. Ich war entschlossen, es zu schaffen.

Ich hatte Glück, sie öffnete ohne lange nachzufragen direkt nach meinem ersten Klingeln. Ich eilte die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch und stürzte an ihr vorbei in Richtung ihres Badezimmers.

Beim Vorbeirennen registrierte ich ihren fragenden Blick, doch ich konnte ihr jetzt nichts erklären. Ich schaffte es, die Tür hinter mit zuzuziehen und den Klodeckel zu heben, dann brach alles aus mir heraus. Buchstäblich.

Ich spuckte Galle, weil ich kaum etwas zu mir genommen hatte. Tränen traten in meine Augen und liefen in Strömen meine Wangen hinab, um schließlich in die Toilette zu tropfen.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sich mein Magen beruhigt. Ich nahm mir Klopapier und trocknete und putzte mich gründlich ab. Dann sank ich neben der Toilette gegen den Heizkörper.

»Claire? Alles in Ordnung mit dir?«, hörte ich Sanni draußen rufen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sie schon versuchte, mit mir zu reden. Sie hörte sich schon ganz verzweifelt an.

»Ja, mach dir keine Sorgen«, quetschte ich heraus. Es klang kraftlos, doch anscheinend hatte sie mich gehört.

»Ich komme jetzt rein, okay?«

Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern drückte die Klinke herunter und trat ein. Als ihr Blick auf die Toilette fiel, verzog sie angewidert das Gesicht. Ich hatte zwar gespült, aber alle Spuren waren noch nicht beseitigt.

Dann sah sie mich an und ihr Blick wurde sofort weicher. Sie runzelte besorgt die Stirn. Sie füllte Wasser in ihren Zahnputzbecher und reichte ihn mir.

Dankbar spülte ich mir den Mund aus und gab ihr den Becher zurück.

Sie ließ sich kurzerhand neben mich auf den Boden sinken und fühlte mit der Hand meine Stirn.

»Was ist denn los? Bist du krank?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich schuldete ihr eine Erklärung, aber ich konnte jetzt noch nicht sprechen.

Sanni wartete geduldig. Als sie sich sicher war, dass ich mich nicht noch einmal übergeben würde, zog sie mich hoch und führte mich in ihr Wohnzimmer. Dort ließ ich mich in ihren Lieblingssessel fallen und schloss die Augen.

Noch immer waren meine Gefühle seltsam unklar. Alles fühlte sich taub an, so als hätte man mich innerlich vereist. Die Emotionen würden kommen, vermutlich mit einer Wucht, die ich kaum ertragen konnte, aber noch war es nicht so weit. Mein Gehirn weigerte sich schlicht und ergreifend, sich die Wahrheit einzugestehen.

Liebe auf Umwegen || Ed SheeranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt