Claires Träume

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Ich trank meinen Wein aus und starrte aus dem Fenster. Unwillkürlich überlegte ich, was wir mit dem angebrochenen Abend noch anfangen konnten. Weggehen kam ja leider nicht in Frage. Aber auf einen weiteren Abend mit Pizza und einem Video hatte ich auch keine große Lust. Gab es nichts anderes, was man zuhause machen konnte?

Auf der Suche nach Inspiration schlenderte ich durch Eds Wohnung und begann nebenher, die Klamotten ein wenig zusammenzuräumen. Am schlimmsten sah es in seinem Schlafzimmer aus. Kein Wunder, dass er so gerne auswärts schlief, hier drin konnte man sich einfach nicht wohlfühlen. Es sah aus, als würde er abends, wenn er schlafen würde, einfach die Klamotten, die auf dem Bett lagen, zur Seite schieben und sich auf der entstandenen Fläche hinlegen. Ich schmiss die meisten der Sachen in den großen Wäschekorb an der Fensterfront. Darum konnte er sich selbst kümmern. Oder seine Putzfrau. Ein paar Hemden sahen aus, als hätte er sie zwar aus dem Schrank gezogen, aber nie angehabt. Diese hängte ich zurück. Im obersten Schrankfach fiel mein Blick auf einen Korb, den ich normalerweise keines zweiten Blickes gewürdigt hätte. Doch beim Anblick des hellen Weidenholzes durchzuckte mich wieder so eine merkwürdige Erinnerung, die doch keine war. Ich sah ein Picknick auf einem Dach. Etwas, das ich garantiert noch nie erlebt hatte. Oder ich war so jung gewesen, dass ich mich nicht mehr richtig erinnern konnte.

Entschlossen zog ich den Schrank zu. Mittlerweile war das Bett freigeräumt und ich machte mich an den Rest des Zimmers, bis nichts mehr herumlag. Dann drapierte ich die wenigen Kuscheltiere noch auf dem Regal über dem Kopfteil des Bettes. Ich lächelte, als ich den Bären sah, den ich ihm mal vor vielen Jahren geschenkt hatte. Er trug eine Sonnenbrille und hatte rotbraunes Fell. Ich hatte ihn Eddy-Teddy genannt und ihn Ed stolz überreicht. Damals konnte ich höchstens acht Jahre alt gewesen sein. Ich hatte den Teddy auf dem Flohmarkt entdeckt und sofort an Ed gedacht.

Ich stellte den Teddy ebenfalls auf das Regal. Dabei fiel mein Blick auf einen kleinen Plüschhasen mit hellrotem Halstuch, auf dem kleine Herzen abgebildet waren. Er war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Ich nahm ihn vom Regal und betrachtete ihn. Er war nicht mal besonders hübsch. Ein billiges Stofftier, das man vom Wühltisch mitnahm oder auf dem Rummel gewinnen konnte.

Doch als ich das flauschige Fell an meinen Fingerspitzen spürte, durchzuckte es mit plötzlich so heiß, als hätte mir jemand ein glühendes Messer in den Magen gerammt.

Ich kannte diesen Hasen. Wie in einem Film, den man im Schnelldurchlauf ansah, erschienen vor meinem inneren Auge Bilder eines Karussells, bunte Buden, eine Menschenmenge und Luftballons. Ich konnte den Duft von Zuckerwatte und Popcorn beinahe riechen.

Auf einmal erinnerte ich mich wieder an alles. Ed und ich, wie wir Dartpfeile warfen und den Hasen als Gewinn erhielten. Mein Traum. Der Traum, in dem auch dieser seltsame Baum vorkam und die Parkbank. Mein Herzschlag geriet ins Stolpern, meine Hände, in denen ich noch immer den Plüschhasen hielt, wurden feucht. War es womöglich gar kein Traum gewesen?

Ich warf den Hasen aufs Bett, als hätte ich mich daran verbrannt. Das musste ein Zufall sein. Bestimmt hatte Ed dieses Plüschtier schon lange und ich hatte es irgendwie in meinen Träumen verarbeitet. Aber warum war ich mir dann sicher, es noch nie zuvor gesehen zu haben?

Ich schluckte schwer. In meinem Hals formte sich ein riesiger Kloß, der mir die Luft abdrückte. Mein Körper wollte mir etwas sagen, was mein Gehirn sich noch weigerte zu begreifen.

Ich starrte den Hasen auf dem Bett an. Je länger ich ihn ansah, desto deutlicher wurden die Erinnerungen an meinen Traum. Ich begann, Einzelheiten zu sehen, mich an weitere Stationen zu erinnern. Die Karussellfahrt. Wie wir lachend Hand in Hand durch die Menschenmenge liefen. Der Baum, in den er unsere Initialen geritzt hatte.

Ich wusste sogar, auf welchem Jahrmarkt das gewesen war. Er war gar nicht so weit von hier. Man konnte hinlaufen.

Beim Gedanken daran musste ich blinzeln und erneut schlucken. Ich schüttelte den Kopf und weigerte mich, darüber nachzudenken, was das bedeuten konnte. Aber ich konnte auch jetzt nicht einfach zu Ed gehen und so tun, als wäre nichts. Obwohl höchstwahrscheinlich wirklich nichts war und ich hier einfach nur vollkommen unnötig durchdrehte.

Ich musste es einfach wissen.

Und es gab eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ich nur geträumt hatte oder nicht.

Ich rief Ed zu, dass ich noch einmal kurz wegmusste, wartete seine Antwort gar nicht ab und verschwand aus der Wohnung. Aller Voraussicht nach war ich in spätestens einer halben Stunde zurück mit der Gewissheit, dass alles wirklich nur ein Traum gewesen war. Und Ed würde mit etwas Glück nicht einmal mitbekommen haben, dass ich weg war. Dann würde ich ihm vielleicht lachend davon erzählen.

Doch so sehr ich mich selbst beruhigen wollte, die Unsicherheit in meinem Inneren blieb bestehen. Es lag bestimmt auch an all dem Alkohol, den ich getrunken hatte, aber die Welt um mich herum kam mir seltsam unwirklich vor. Fast, als wäre es schon wieder ein Traum. Ich kniff mir im Gehen in die Haut auf meinem Handrücken. Es tat weh, also träumte ich wohl nicht.

Der Jahrmarkt lag nur zehn Gehminuten entfernt. Ich konnte das Riesenrad schon von Weitem sehen. Sogar das Karussell mit den alten Holzpferden erkannte ich gleich, aber es war zugehängt. Vermutlich war es schon seit Tagen außer Betrieb.

Erleichterung durchflutete mich. Doch mein eigentliches Ziel lag noch ein kleines Stück weiter hinten. Wenn mich die Erinnerung aus meinem Traum nicht trügte, musste es hier irgendwo sein.

Tatsächlich, da stand eine Trauerweide. Sie sah haargenau so aus wie in meinem Traum.

Ich strich die Zweige zur Seite und schlüpfte hindurch. Ich musste mehrmals blinzeln, als ich darunter eine Parkbank entdeckte. Das war so unerwartet und erwartet zugleich gekommen, dass mein Gehirn ein paar Sekunden brauchte, die Information zu verarbeiten. Ohne weiter zu zögern, suchte ich mit den Augen den Baumstamm ab.

Je länger ich suchte, desto ruhiger wurde mein Atem. Hier war nichts. Die Baumrinde war zwar an mehreren Stellen eingeritzt, aber nirgendwo kam mir etwas bekannt vor.

Erleichtert ließ ich mich auf die Bank plumpsen. Mein Kinn stützte ich auf meinen Händen ab, die wiederum auf meinen Oberschenkeln ruhten. Ich begann zu lachen. Erst leise, dann immer lauter. Bestimmt würden mich die Leute, die vor dem Baum vorbei gingen, hören und sich fragen, ob hier eine Verrückte saß. Aber das war mir egal. Ich war so froh. So erleichtert. Ed hatte mich nicht hintergangen.

Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte meine Erleichterung heraus. Dabei fiel mein Blick an den Stamm direkt über mir und das Lachen blieb mir im Halse stecken.


Liebe auf Umwegen || Ed SheeranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt