Warum?

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Ich rannte und rannte. Jeder Atemzug tat mir in den Lungen weh, ich spürte meine verkrampften Muskeln an den Waden seit zwei Straßenzügen bei jedem Schritt. Aber ich wurde nicht langsamer. Die Schmerzen waren ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich das hier nicht träumte. Außerdem hielten sie die Gedanken in meinem Kopf im Zaum. Ich musste auf meine Schritte achten, den Verkehr im Auge behalten und mich daran erinnern, trotz brennender Kehle weiterzuatmen. Das beanspruchte einen Großteil meiner Aufmerksamkeit und dafür war ich dankbar.

Nach knapp fünf Minuten stand ich vollkommen außer Atem vor Eds Haus. Ich beugte mich vor und legte die Hände auf die Oberschenkel. Das Blut rauschte durch meine Adern und klopfte unangenehm in meinen Ohren. Oder war das mein Herz? Immerhin schlug es noch.

Alles in mir sträubte sich, Ed jetzt gegenüberzutreten. Aber ich musste es einfach wissen. Außerdem war da diese winzige Hoffnung in mir, dass er eine vollkommen harmlose Erklärung für alles hatte.

Kaum hatte sich mein Herzschlag etwas beruhigt, spürte ich, wie der Schweiß aus all meinen Poren strömte. Ich musste schrecklich aussehen. Wahrscheinlich war mein Gesicht tomatenrot und auf meinem Shirt breiteten sich die Schweißflecken aus. Ein Blick in die Glastür bestätigte mir, dass sich auch meine Frisur aufgelöst hatte und nun die Strähnen in alle Richtungen abstanden. Jede Vogelscheuche hätte beim Schönheitswettbewerb gegen mich gewonnen.

Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Entschlossen ging ich hinein und an dem Portier vorbei. Entweder hatte er mitbekommen, wie ich vorhin gegangen war und ging jetzt davon aus, dass alles seine Richtigkeit hatte, oder er war schlichtweg abgeschreckt von meinem Äußeren, jedenfalls hielt er mich nicht auf.

Anstatt vor Eds Wohnung stehen zu bleiben, folgte ich diesmal meinem Gefühl und ging die Treppen weiter hoch, bis ich vor einer Tür stand, die verschlossen sein sollte, es aber nicht wahr. Die Erinnerungen, die mich durchfluteten, als ich durch die Tür trat, überraschten mich schon gar nicht mehr. Im Gegenteil, in meiner Kehle formte sich ein hysterisches Lachen, als ich mich auf der Dachterrasse umsah und auf einmal überdeutlich vor Augen hatte, wie wir hier oben gepicknickt hatten. Und nicht nur das. Meine Hand fuhr zu meinen Lippen. Das Lachen ging in ein Schluchzen über. Mein Körper verkrampfte sich, so dass ich haltsuchend nach einem Mauervorsprung griff und mich daran hinuntergleiten ließ. Ich saß mit dem Rücken zur Wand, die Arme um meine angewinkelten Knie geschlungen und wiegte mich sanft von einer Seite auf die andere. Die Tränen in meinen Augen verschleierten meine Sicht. Doch die Bilder, die meine Erinnerung heraufbeschworen, bleiben scharf umrissen. Wie hatte ich das alles nur vergessen können?

Ed öffnete keine zwei Sekunden nach meinem Klingeln. Seine Haare waren zerzaust, als wäre er mehrmals mit der Hand hindurchgefahren.

»Wo warst du? Ich habe dich gesucht.«

Ohne ein Wort stürmte ich an ihm vorbei in sein Schlafzimmer. Ich registrierte, dass er mir folgte, hielt jedoch nicht inne, um auf ihn zu warten.

Der Hase lag noch genauso auf dem Bett, wie ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ich packte ihn und hielt ihn Ed unter die Nase.

»Was ist das?«

»Ein Plüschhase, würde ich sagen. Claire, was ist denn ...?«

»Woher hast du den?«, unterbrach ich ihn. Es kostete mich alle Kraft, die ich hatte, beherrscht zu bleiben.

»Den wird mir irgendjemand -«

»Erzähl mir jetzt keinen Scheiß. Woher hast du diesen Hasen?«

Ich konnte sehen, wie die Erkenntnis in seine Augen trat. Ich konnte es sehen, als hätte sich seine Augenfarbe verändert. Nur ganz leicht verengten sich seine Augen, doch ich sah jede Veränderung, jedes Zucken seiner Wimpern.

»Du erinnerst dich.«

Es war keine Frage, deshalb sparte ich mir die Antwort.

Er sah verwirrt aus. »Aber wieso ...?« Er brach ab, forschte in meinem Gesicht nach Antworten.

»Du hast es auch bei mir gemacht.« Meine Stimme klang noch genauso fassungslos, wie ich mich fühlte.

Ich wusste, dass ihm klar war, was ich meinte. Dennoch wich der fragende Ausdruck nicht aus seinem Gesicht.

»Ich verstehe das nicht«, brachte er schließlich hervor.

Ich wollte ihn schütteln, ihm irgendetwas Schweres an den Kopf werfen.

»Du hast deine verdammte Gabe bei mir eingesetzt! Warum hast du das gemacht?«

Noch während ich die Frage stellte, wusste ich die Antwort. »Du wolltest ausprobieren, wie weit du bei mir gehen kannst. Ohne Risiko. Und weil ich mich nicht darauf einlassen wollte, hast du meine Erinnerung gelöscht.«

Ich dachte an die Initialen, die er in die Rinde der Trauerweide geritzt hatte. E und C. Am meisten hatte mich daran verstört, dass um die Buchstaben herum ein Herz gemalt war.

Ich dachte an das Picknick auf dem Dach. An den Kuss. Das war ein anderer Traum gewesen, ein anderer Tag.

»Du hast das nicht nur einmal gemacht. Wie oft?«

»Warum erinnerst du dich daran?« Er wirkte überfordert.

»Wie oft?«, wiederholte ich mit gefährlich leiser Stimme.

Seine Augen irrten im Zimmer umher. Ich konnte sehen, dass er nach einer Antwort auf seine Frage suchte. Doch vorher wollte ich, dass er meine Frage beantwortete.

»Wie oft hast du mich vergessen lassen?«

Er sah mich nicht an, als er antwortete. »Zwei Mal.«

Ich atmete erleichtert aus. Meine zwei Träume. Jetzt hatte ich Gewissheit. Einerseits, dass ich wirklich nicht geträumt hatte und andererseits, dass es nicht öfter passiert war.

Doch meine Erleichterung hielt nicht lange an.

»Warum hast du das gemacht?« Meine Stimme klang seltsam tonlos. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. In meinen Augen sammelten sich Tränen, doch ich blinzelte sie entschlossen weg.

»Claire.« Er kam näher. Fast automatisch trat ich einen Schritt zurück. Leider war hinter mir eine Wand, so dass ich nicht weit genug ausweichen konnte. Er legte seine Hände auf meine Oberarme. »Claire. Es tut mir leid, das musst du mir glauben.« Er sah mich eindringlich an.

Langsam schüttelte ich den Kopf. Statt der erwarteten Enttäuschung über seinen Verrat spürte ich, wie Wut sich in mir sammelte. Ein heißer Feuerball in meinem Bauch, der sich schnell ausweitete.

Vor mir stand nicht mehr mein bester Freund. Vor mir stand ein Mann, der mich ausgenutzt hatte. Mit der eiskalten Berechnung, dass er seine Fehltritte jederzeit aus meinem Gedächtnis löschen konnte.

Ich war so in meiner Wut verstrickt, dass ich nicht mal registrierte, wie er mir noch näher kam. Erst als ich seine Lippen auf meinen spürte, setzte mein Verstand mit einer Wucht wieder ein, der mir den Atem raubte. Ich stieß ihn von mir und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Ich sah noch, wie er seine Hand an seine Wange hob und ansetzte, etwas zu sagen, dann drehte ich mich um und rannte aus der Wohnung.


Liebe auf Umwegen || Ed SheeranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt