Nur ein Freund

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Als ich nach der Arbeit zuhause auf der Couch saß, fielen mir fast die Augen zu. Mir fehlte noch immer Schlaf, denn nach dem Konzert gestern hatte ich ewig nicht einschlafen können. Ich war viel zu aufgekratzt. Heute würde ich einfach früher schlafen gehen.

Aber noch nicht jetzt. Es war ja erst kurz nach sechs. Also saß ich unschlüssig weiter auf der Couch.

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als es an der Tür klingelte. Da ich schon ahnte, wer das sein könnte, drückte ich ohne nachzufragen auf den Türöffner und ließ die Wohnungstür einen Spaltbreit offen.

»Hast du keine Angst vor Mördern?«, fragte kurz darauf eine männliche Stimme aus meinem Flur. Zwei Sekunden später stand er im Türrahmen zum Wohnzimmer und grinste auf mich herab.

»Komm rein. Mach es dir gemütlich«, bestimmte ich und wies auf den Sessel. Doch Ed ignorierte mich und kam stattdessen zu mir auf die Couch. Er fläzte sich so darauf, dass für mich kaum noch Platz blieb und besaß sogar die Frechheit, seine Füße auf meinen Schoß zu legen.

»Ah«, stöhnte er wohlig. Dann begann er, mithilfe des einen Fußes die Socke von dem anderen zu streifen. Ich konnte nur entsetzt auf meinen Schoß starren. »Das ist jetzt nicht dein Ernst?«

»Was denn?« Er sah verwirrt aus. Dann bemerkte er meinen Blick und grinste. Aber immerhin nahm er die Füße von mir runter.

»Und, hast du dich von gestern erholt?«

Er sah mich eine Weile an. »Klar«, meinte er gedehnt, »bin erst vor zwei Stunden aufgestanden.«

»Nicht allein, nehme ich an.« Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Das ging mich schließlich nichts an. Er konnte in die Kiste steigen, mit wem er wollte.

Nicht ganz überraschend nickte er und grinste in sich hinein.

Ich warf ein Kissen nach ihm. »Du bist echt ein Scheißkerl. Ich nehme an, sie wird nicht deine nächste Freundin?«

Er antwortete nicht, aber das musste er auch nicht. Ich kannte die Antwort. Wenn ich ehrlich war, konnte ich mich gar nicht daran erinnern, ob er überhaupt schon mal eine länger andauernde Beziehung geführt hatte. Eigentlich war ich die einzige weibliche Konstante in seinem Leben, neben seiner Mutter natürlich. Ein schöner Gedanke.

»Kann ich heute Nacht hier pennen?«

Ich sah ihn erstaunt an. »Was ist denn mit deiner Wohnung nicht in Ordnung?«

Ich sah mich um, als würde ich die Einrichtung hier zum ersten Mal sehen. Ich wohnte zur Miete in einer kleinen Dachgeschosswohnung. Alles hier war ein wenig heruntergekommen, doch es war nicht teuer und ich hatte alles, was ich brauchte. Ein Bett, eine kleine Küchenzeile und, was das Wichtigste war, eine Badewanne, die mein kleines Bad fast vollständig ausfüllte. Ohne Badewanne hätte ich die Wohnung nicht genommen.

Doch wenn ich die zusammengewürfelten Möbel, den durchgelaufenen Teppich und die abgewetzte Couch aus Eds Augen betrachtete, kam mir alles schäbig vor. Ed war Besseres gewohnt.

Ja, es stimmte schon. Auch er stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte jahrelang auf dem Fußboden bei einem seiner Freunde geschlafen, weil er sich keine Wohnung leisten konnte. Doch dann war er endlich mit seiner Musik erfolgreich geworden und schlagartig hatte sich für ihn das Blatt gewendet. Jetzt besaß er ein schickes Apartment in der Stadt mit Blick auf den Fluss. Und soweit ich wusste, hatte er auch noch eine Wohnung in der Hauptstadt, eine in London und mindestens noch eine irgendwo auf einem anderen Kontinent. Er schlief nicht gern in Hotels, das hatte er jedenfalls oft genug behauptet.

Ich sah ihn abwartend an. Er versuchte, meinem Blick auszuweichen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und murmelte: »Bin dort allein.«

Ich sah erstaunt auf. Sonst hatte er doch auch keine Probleme, an Begleitungen zu kommen. Und nach allem, was ich so mitbekam, waren das hauptsächlich Begleitungen für eine Nacht. Der König der One-Night-Stands. Warum er deswegen noch keinen Ärger bekommen hatte, war mir ein Rätsel. Aber für die Presse hatte er eine lupenreine Weste. Keine einzige seiner Affären war ihm je nachgewiesen worden. Womit er die Mädchen überredete, dicht zu halten, würde mich wirklich interessieren. Es schien auf jeden Fall wirksam zu sein.

Eigentlich konnte es mir ja egal sein. »Klar, wenn du willst.«

Ich hatte ihn gern um mich. Wir kannten uns seit Kindertagen. Erst hatte er mich nicht beachtet. Da war ich immer nur die nervige kleine Schwester seines Schulkumpels gewesen. Doch als ich älter wurde, wurde ich von den beiden immer öfter mitgenommen. Und als mein Bruder dann wegzog um zu studieren, unternahm Ed eben nur noch mit mir etwas. Seine Freundschaft zu meinem Bruder hält bis heute, auch wenn die beiden so unterschiedliche Leben führen. Mein Bruder ist mittlerweile erfolgreich im Management einer Druckerei tätig, hatte eine Frau und erwartete sein erstes Kind. Und Ed? Der wurde irgendwie nie erwachsen.

Ich musste mich korrigieren. In einer Hinsicht war er sehr zuverlässig und erwachsen und das war im Zusammenhang mit seiner Musik. Manchmal hatte ich das Gefühl, es gab zwei Eds, einmal den ernsthaften und ehrgeizigen Musiker und dann den blödelnden Kumpel, mit dem man die Nacht durchfeiern konnte, der lustig und großzügig war und nie um eine Idee zu einem Streich verlegen.

»Gehst du mit mir ins Kino?«

Seine Frage überraschte mich nicht. Er liebte das Kino. Eigentlich hatte ich mich schon gewundert, warum er mit der Frage so lange gewartet hatte. Es war schon eine Art Ritual zwischen uns beiden. Und ebenso wie immer schüttelte ich den Kopf. »Du weißt, dass das nicht geht.« Und ehe er protestieren konnte, auch wie immer, fügte ich hinzu: »Und außerdem bin ich heute tierisch müde. Ich war gestern auf einem Konzert, weißt du?«

»Und, war es gut?« Er spielte mit dem Kissen, dass ich vorhin auf ihn geworfen hatte.

»Ja, war super. Den musst du dir auch mal anhören.« Ich grinste.

Er sah auf und grinste zurück. »Klar, mache ich irgendwann mal.«

»Wir können ja den Fernseher anmachen.« Warum hatte ich nur immer das Gefühl, ihn trösten zu müssen? Ed war bestimmt der letzte Mensch auf dieser Erde, der Trost nötig hatte. Er hatte alles erreicht, was er sich immer gewünscht hatte und weit mehr als das.

Er krallte sich die Fernbedienung, ehe ich sie geschnappt hatte und suchte sich einen Sportsender. Ich verdrehte die Augen. Er war hier in meiner Wohnung und wollte das Fernsehprogramm bestimmen? Das konnte ich nicht dulden. Vorsichtig robbte ich näher an ihn heran. So unauffällig wie möglich ließ ich meine Hand an seine Seite wandern. Und dann schlug ich blitzschnell zu. Er war unheimlich kitzlig an beiden Seiten und das wollte ich schamlos ausnutzen. Wie erwartet wand er sich und versuchte, meinen Fingern zu entkommen. Mit der anderen Hand versuchte ich die Fernbedienung zu greifen, die er auf seinen Bauch hatte fallen lassen. Doch er war schneller. Nicht nur, dass er sich die Fernbedienung schnappte, im Gegenteil, er drehte auch noch den Spieß um, so dass ich nun diejenige war, die versuchte, seinen Kitzelattacken zu entkommen.

Genauso schnell wie es angefangen hatte, hörte er plötzlich auf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu. Man konnte meinen, es sei gar nichts passiert. Lediglich das leichte Grinsen, das noch immer auf seinen Lippen lag, zeugte davon, wie er seinen Triumph genoss.

Ich besah mir sein Profil. Seine Haare lagen wirr in seiner Stirn, Frisur konnte man das nicht nennen. Die Haare waren immer etwas zu lang und immer unordentlich. Seine Augen lagen ein bisschen zu weit auseinander, doch seine Nase war sehr gerade. Seine Brille passte gar nicht zu ich, viel zu nerdig, aber das war ihm egal. Er war nicht mein Typ, doch anscheinend war ich allein mit meiner Meinung, jedenfalls wenn man nach den tausenden Frauen ging, die sich Abend für Abend bei seinen Konzerten die Seele aus dem Leib schrien. Auch die Mädchen, die er nach den Konzerten oft abschleppte, fanden ihn anscheinend sehr sexy.

Für mich würde er immer nur ein Kumpel sein.


Liebe auf Umwegen || Ed SheeranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt