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S A M •

Leise rufe ich Jamie's Namen, als er zwischen den Sanitätern zusammensackt. Wie erstarrt bleibe ich stehen. Wieder kann ich mich nicht rühren. Wie versteinert betrachte ich die ganze Situation, als wäre ich Zuschauer eine Films. Ein Sanitäter stößt leise Schimpfwörter aus. Anschließend verfrachten sie ihn irgendwie auf die Trage und schieben ihn zum Krankenwagen.

„Kommst du mit?" fragt der Sanitäter, der die ganze Zeit redet und schaut mich an. Schwach nicke ich, kann mich jedoch immer noch nicht bewegen.
„Dann jetzt." fährt er mich an. Wie von selbst setzen sich meine Füße in Bewegung. Und ich sitze auch schon in dem Krankenwagen. Unter Blaulicht und Sirenen fährt der Wagen los, während der zweite Sanitäter Jamie versorgt. Es ist der, der immer so viel redet. Ich höre ihm jedoch nicht zu. Ich bin zu konzentriert, Jamie anzustarren und zu hoffen, dass es wirklich wieder wird, so wie er gesagt hat.

Die Bilder davor verarbeitet mein Kopf jedoch nicht. Die sausen immer wieder wie ein Film durch. Immer auf ein neues. Wie der Kerl Jamie das Messer in den Bauch rammt. Wie Jamie leicht zusammensackt. Wie er seine Hand anstarrt, von der Blut tropft. Wie er sich wieder aufrichtet, als ich endlich meine Stimme wiederfinde. Wie er dem einen Kerl eine verpasst. Wie Jamie gegen der Wand zu Boden rutscht. Und wie er zwischen den Sanitätern zusammensackt.

Der Sanitäter stupst mich mit seinem Ellbogen an, als er kurz aufatmend neben mir Platz nimmt. Jamie scheint wohl versorgt zu sein. Ausdruckslos schaue ich ihn an.
„Er wird wieder. Er ist ein zäher Kerl." er versucht mich aufzumuntern, doch das klappt nicht ansatzweise, stattdessen schaue ich wieder Jamie an.
„Wirklich. Nicht viele sind nach so einer Verletzung so lange ansprechbar. Einige werden schon nach wenigen Sekunden ohnmächtig. Viele nach etwa zwei Minuten und nur wenige nach der Zeit." erzählt er. Kurz schaue ich den Sanitäter an, der leicht lächelt. Doch auch der Versuch scheitert. Natürlich ist Jamie stark. Das habe ich nie bezweifelt. Aber ich habe trotzdem eine verfluchte Angst. Ich will ihn nicht verlieren. Ich wüsste nicht was ich dann tun würde. Ich bin der Verzweiflung viel zu nah, um noch einigermaßen normal denken zu können.

Relativ plötzlich kommt der Krankenwagen zum Stehen und schon werden die Türen aufgerissen. Der Sanitäter springt raus und beginnt schon wieder zu erzählen. Die Schwestern fragen aber auch einiges. Und Jamie wird auf der Trage in das Krankenhaus gerollt. Wieder kann ich mich nicht bewegen.

Eine Schwester kommt ein paar Augenblicke später und schaut mich einfach nur an. Dann hält sie mir ihre Hand hin, die ich ergreife und aus dem Krankenwagen aussteige. Sie ist ein Stück größer als ich, stelle ich fest, als sie mir den Arm um die Schultern legt und mich mit nach drin führt.
„Hast du schon jemanden angerufen?" fragt sie und schaut mich wieder nur an. Ohne eine Wertung in ihrem Ausdruck erkennen zu lassen. Leicht schüttle ich den Kopf.
„Ich kann das machen, wenn du möchtest." sagt sie, worauf ich nicke und mein Handy aus der Tasche hole.

Ich drücke auf den Kontakt, mit dem Namen -Jamie's Mom - und halte der netten Schwester das Handy hin.

Sie entfernt sich zwei Schritte und wartet bis Helen ran geht. Erschöpft lasse ich mich auf einen Stuhl fallen. Auf dem kleinen Stuhl schaffe ich es, die Beine auf der Sitzfläche abzustellen und vor meinen Körper zu ziehen. Den Kopf vergrabe ich in meinen Armen.

Erst als die Schwester mir eine Hand auf die Schulter legt, schaue ich wieder auf. Sie lächelt leicht, als sie mir das Handy reicht.
„Helen und ich kenne uns schon lange. Was für ein Zufall. Ich freue mich sie wiederzusehen, auch wenn der Umstand nicht der beste ist. Jamie wird also versorgt wie ein Kaiser. Mach dir keine Sorgen. Wenn etwas ist, dann sag Bescheid, ja?" berichtet sie und wartet bis ich nicke. Sie lächelt mich noch einmal an und geht anschließend wieder ihrer Arbeit nach. Ich nehme mein Handy und drücke die Wahlwiederholung.

„Hey Sam. Debra hat dir bestimmt erzählt, dass ich schon auf dem Weg zu euch bin. Es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir. Am besten rufst du jemanden aus deiner Familie an, der mit dir wartet, bis ich da bin. Machst du das? Ich möchte nicht, dass du allein da rum sitzt." Sie scheint zu merken, dass mir nicht nach reden zu mute ist und erzählt daher von selbst.
„Ok." antworte ich ihr lediglich. Danach lege ich auf und wähle die Nummer meiner Schwester.
„Mensch wo bleibt ihr denn? Der Film sollte doch schon längst vorbei sein." wie üblich bekomme ich keine Begrüßung.
„Krankenhaus." bekomme ich mit Mühe hervor.
„Scheiße. Was ist passiert?" fragt sie direkt und deutlich kann ich die Sorge in ihrer Stimme hören.
„Jamie... Jamie w... wurde..." Ich schaffe es einfach nicht diesen Satz auszusprechen. Es geht nicht. Es schnürt mir den Hals zu, nimmt mir die Luft zum Atmen.
„Scheiße. Ich bin schon unterwegs. Beweg dich nicht vom Fleck." anschließend höre ich sie schimpfen und über irgendetwas drüber stolpern, ehe die Leitung tot ist.

Nachdem ich das Handy in die Tasche gesteckt habe, bleibe ich regungslos sitzen. Kein Muskel zuckt, nichts reagiert. Lediglich meine Lunge und mein Herz verrichten noch ihre Arbeit. Obwohl ich befürchte, dass mein Herz demnächst draufgehen wird, weil ich mich so schlecht fühle. So schuldig. So verantwortlich.

Ich habe die Typen nämlich erkannt. Sie haben mich schon in der Schule immer fertig gemacht. Jede Woche wenigstens ein Mal. Meistens haben sie mich verprügelt, aber sie haben sich auch andere Sachen einfallen lassen. Dass sie auf andere losgehen, hätte ich nicht gedacht. Das haben sie auch noch nie vorher getan. Aber das ist ja egal. Es interessiert nicht die Vergangenheit. Fakt ist, dass sie auf Jamie los sind und das allein wegen mir. Dafür bin ich verantwortlich. Ich mache mir jetzt schon Vorwürfe, wie sonst was. Ich will gar nicht erst daran denken, was mit mir passiert, wenn er...

Ich spüre wie mir die Tränen hochsteigen und wie ich sie nicht zurückhalten kann. Sie rollen mir einfach in Strömen über die Wangen. Schnell vergrabe ich wieder das Gesicht in meinen Armen und weine einfach. Ich lasse es einfach zu.

Lindsey legt ihre Arme um mich, als sie neben mir sitzt. Ihr vertrauter Geruch steigt mir in die Nase. Ihre langen Haare kitzeln leicht auf meiner Haut. Doch selbst das beruhigt mich nicht mehr, so wie früher.
„Shh. Ganz ruhig. Er ist doch stark." erzählt sie mir und hält mich einfach nur fest. Doch wie wenig es bringt, bemerkt sie schnell. Trotzdem lässt sie mich nicht los. Sie drückt mich einfach gegen sich und streicht sanft über meinen Rücken. Dabei beginnt sie mir alles mögliche zu erzählen. Alles was ihr durch den Kopf zu schwirren scheint.

Stunden später kommt Helen in den Wartebereich gelaufen. Keine Ahnung, wie spät es eigentlich ist. Eilig nimmt sie mich in den Arm und drückt mich so sehr, dass ich glaube mir würde irgendetwas brechen. Dann hält sie mich an den Schultern fest und drückt mich etwas von sich weg.
„Du siehst verheult aus. Dazu hast du keinen Grund, noch hat Debra mich nicht angerufen und gesagt, dass er hops gegangen ist. Jetzt geh und wasch dich." befiehlt sie streng und setzt einen Blick auf, der keine Widerworte zulässt. Eindringlich schaut sie mich an, bis ich nicke. Dann lässt sie mich los und scheint sich auf die Suche nach ihrer Freundin zu machen.
„Wer war das?" fragt Lindsey etwas verwirrt.
„Jamie's Mom." antworte ich ihr kurz.
„Ich mag die Frau jetzt schon." kichert sie.
„Ich auch." murmle ich leise. Meine Schwester legt mir wieder den Arm um die Schultern.
„Los, dann wollen wir mal wieder meinen wahnsinnig süßen Bruder aus dir machen." verkündet sie und zieht mich eiskalt mit in die Mädchentoilette.

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt