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• J A M I E •

Die letzten Wochen sind viele zu schnell vergangen. Ich will nachher nicht in diesen Flieger steigen. Die Wochen mit Sam waren einfach so schön. So viele neue, spannende, aufregende Sachen, die wir gemacht haben. So viele schöne Abende. Ich weiß, ich werde ihn richtig vermissen. Wahrscheinlich steht mir die schlechte Laune und der Unmut deswegen richtig ins Gesicht geschrieben.

„Schatz. Guck doch nicht so. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm wie du denkst." versucht Mom mich aufzumuntern, als wir beim Frühstück sitzen.
„Stimmt, vielleicht wird es noch viel schlimmer." knurre ich und lasse die Cornflakes wieder vom Löffel in die Schüssel fallen. Mir ist der Hunger vergangen.
„Du solltest es wenigstens versuchen." wirft Sam jetzt auch noch ein. Ein bitterböser Blick geht in seine Richtung. Ich kann einfach nicht anders. Ich. Will. Nicht. Ende der Geschichte.

Wir haben darüber geredet und ich habe mich eigentlich auch damit abgefunden, aber heute, wo es real wird, kann ich es nicht akzeptieren. Wahrscheinlich bewirkt mein Schlafmangel jetzt den Rest. Ich konnte einfach nicht schlafen, ich habe mich nur hin und her gedreht.

Ich sage einfach nichts mehr, während ich die Cornflakes nur in der Schüssel hin und her rühre. Mom und Sam sind aber auch nicht so munter gelaunt wie sonst. Sie führen kein angeredetes Gespräch über irgendetwas aus den Nachrichten, so wie eigentlich jeden Morgen, wenn wir gemeinsam frühstücken. Ihnen scheint es wohl doch schwer zu fallen, mich abzuschieben. Besser ist auch.

Ich verziehe mich in mein Zimmer bis wir los müssen. Dabei möchte ich mich an Sam kuscheln und vergessen, was nachher noch kommt. Zum Glück redet er nicht mehr darüber. Sondern plappert über seine Familie. Die ich auch gern besucht hätte. Trotzdem sage ich nichts. Ich höre einfach zu. Schließlich ist er nicht schuld, dass ich nicht mit kann.

„Ich hoffe, meine Schwester ist nicht die ganze Zeit da. Das wird sonst genauso anstrengend wie mit Laurel." lacht er leise, während er immer noch durch meine Haare streicht.
„Obwohl. Laurel ist schlimmer. Lindsay redet nur zu viel." Ich hätte seine jüngere Schwester gern kennen gelernt. Sie hätte mir bestimmt einiges über Sam erzählen können.

Pünktlich steht Mom in meiner Zimmertür. Wehe! Ich will noch nicht los! Geplant war mich an Sam zu klammern und nicht aufzustehen, doch er macht da nicht mit. Er ist schneller und folgt Mom. Ich weiß, ihn nervt mein kindisches Verhalten. Etwas. Oder auch sehr. Doch mein ganzer Körper sträubt sich dagegen. Die Abneigung gegen meinen Vater wächst zusehends und dagegen komme ich nicht an. Es hängt wie meine persönliche Regenwolke über mir, die sich in ein aufbrausendes Gewitter verwandelt.

Für Außenstehende sieht es bestimmt interessant aus. Mom und Sam sind sichtlich geknickt sind und ich bin sauer, beinahe schmollend. Deswegen reiße ich mich jetzt noch etwas zusammen. Sie haben mir das schließlich nicht aufgezwungen, das war wer anders. Und der wird das voll abbekommen.

In der schier endlosen Schlange von Menschen, die alle ihr Gepäck abgegeben wollen, lege ich den Arm um Sam und halte ihn nah bei mir.
„Benimm dich, ja?" murmelt er leise. Er kann es nicht sein lassen.
„Ich versuche es zumindest. Okay?" leicht nickt er auf meine Antwort. Die Vermutung, dass mein Versuch wahrscheinlich in den ersten zehn Minuten scheitern wird, behalte ich lieber für mich.
„Du schaffst das schon. Ich glaube an dich." sagt er leise. Ich hauche einen sanften Kuss auf seine Haare, mehr brauche ich nicht sagen. Er versteht das.

Mom sieht traurig aus, als wir meine Tasche abgegeben haben und wieder zu ihr gehen. Ich nehme sie einfach in den Arm. Ich habe gedacht, dass sie mir sagt, dass ich mich benehmen soll, aber es kommt nichts. Sie drückt mich bloß etwas zu fest. So lange war sie noch nie allein. Ohne mich. Wahrscheinlich wird sie jeden Tag mit mir schreiben und fragen wie es mir geht. Und ich werde sie genauso vermissen. So lange war ich auch noch nie ohne sie. Das wird schwer.

Doch ich muss mich von beiden verabschieden und zum Sicherheitscheck gehen. Ich bin schon spät dran. Ich drücke Mom noch einmal und küsse Sam für einen kurzen Augenblick. Und obwohl wir alle drei nicht wollen, dass ich gehe, tue ich genau das. Seufzend verschwinde ich durch die Schleuse. Allerdings muss ich noch einmal zurückschauen.
Beide stehen immer noch so da. Meine Mom und der Kerl, den ich über alles liebe.

Das sollte ich ihm wohl auch sagen. Am Besten von Angesicht zu Angesicht. Also in fünf Wochen. Er ist mir so wichtig geworden, dass ich nicht mehr ohne ihn sein möchte. Doch das muss ich jetzt. Aber das werde ich nur einmal tun. Nur einmal werden wir für so lange Zeit getrennt sein. Hoffe ich zumindest.

Am Gate muss ich selbstverständlich warten. Eine ganze Weile. Nachdem ich einen Sitzplatz gefunden habe, schließe ich die Kopfhörer an meinen iPod an und lasse einfach die Gedanken schweifen. Seltsamerweise muss ich an Eric denken. An den Tag, an dem er bei mir vorbei gekommen ist und ich mich vor ihm versteckt habe. An die Woche danach, in der er mich gemieden hat. Ich bin so ein mieser Freund. Dennoch lasse ich es mir Vorwürfe zu machen. Es bringt eh nichts, außerdem hat er das schon wieder vergessen. Zwischen uns ist es wie immer. Manchmal hilft es eben jemanden Zeit zu geben. Trotzdem nervt mich das. Ich wollte ihm nicht so vor den Kopf stoßen. Und ich werde es nochmal tun müssen. Das wird unweigerlich kommen. In dem Gespräch, in dem ich ihm beichte, dass ich schwul bin. Er wird sich vor den Kopf gestoßen fühlen, weil ich es ihm nicht früher gesagt habe. Schließlich ist er mein bester Freund.

Wieso kommen diese ganzen negativen Gedanken eigentlich heute alle hoch? Reicht es nicht, dass ich schlechte Laune habe, weil ich zu meinen Vater muss? Oder weil ich Sam solange nicht sehen werde? Weil ich den Sommer nicht so verbringen kann wie ich es gern würde? Muss ich mich jetzt auch noch deswegen schlecht fühlen?

Scheinbar schon.

Ich versuche mich etwas davon abzulenken, indem ich dämliche Spiele auf meinen Handy spiele, das Kabel meiner Kopfhörer um meinen Finger wickle, nervös mit dem Fuß wackle und auf meiner Lippe kaue. Doch es bringt nichts.

Seufzend öffne ich schließlich den Chat mit Eric. Verdammt, wir haben schon ewig nicht mehr geschrieben. Immer nur im Gruppenchat mit den anderen. Er hat wirklich einen besseren besten Freund verdient als mich.
Trotzdem fange ich an zu tippen.

Ich muss dir was sagen. Nichts schlimmes. Denke ich zumindest. Naja, für mich ist es nicht schlimm, aber ich weiß nicht wie du das siehst.
Also. Ich bin ...

Minutenlang starre ich den Text an, ohne ihn abzusenden. Ich kann es nicht schreiben. Und abschicken. Das geht nicht.

Oder kann ich doch?
Kann ich das einfach abschicken? Ihm per Nachricht sagen, dass ich schwul bin? Ohne ihm die Möglichkeit auf ein klärendes Gespräch zu geben?

Scheiße nein. Das geht nicht. Also lösche ich die Zeilen wieder und sperre den Bildschirm. Das schiebe ich jetzt einfach auf das Gefühlschaos, das die bevorstehenden Wochen mit meinen Vater in mir auslösen. Was für eine dämliche Idee. Sam hätte mir das bestimmt auch ausgeredet. Ich verschiebe mein Outing lieber auf später. Dann kann ich das persönlich machen. Das wird für mich bestimmt nicht besser. Aber abwarten. Hellsehen kann ich noch nicht.

Stimmt kann ich nicht, deswegen werde ich es meinem Vater auch nicht gleich unter die Nase reiben. Sonst werden die Wochen bestimmt noch schlimmer.

Oh Mann. Ich bin echt aufgewühlt. Vollkommen durcheinander. Und das alles nur weil ich in ein Flugzeug nach Kanada steigen muss.

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt