Kapitel 18 - Ruhe nach dem Sturm

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Kapitel 18 -                                      Ruhe nach dem Sturm



Mit zittrigen Händen schloss ich meine Haustür auf und schmiss sie danach hinter mir lautstark ins Schloss. Mein Schlüssel wurde achtlos auf die nahe stehende Kommode geworfen, während ich hastig aus meinen Schuhen schlüpfte und auch diese unordentlich an der Garderobe zurückließ. Das einzige, was ich jetzt wollte, war eine heiße Badewanne und laute Musik, die mich hoffentlich auf andere Gedanken bringen würde und mich vorallem von Louis genervtem Gesicht befreien würden, das wegen mir erschienen war.

Ich stellte die Lautstärke meiner Stereoanlage bis zum Anschlag, legte irgendeine unwichtige Rockband auf und zog rasch all meine Klamotten aus. Die Musik war so laut, dass ich schwören könnte, die Wände und der Boden vibrierten im Takt, als ich das Wasser im Badezimmer aufdrehte. Ich dachte nicht einen Moment lang an meine Nachbarn, denn, was sie von mir hielten, kümmerte mich in dieser Situation so wenig wie nie zuvor.

Mein Herz raste immer noch wegen Louis‘ Worten und seinem Verhalten, das mich so sehr traf, dass ich alle Gefühle, die ich so lange unterdrückt und beinahe vergessen hatte, wieder hochkamen und in mir brodelten wie ungebetene Gäste. Ich könnte schwören, den bitteren Geschmack meiner salzigen Tränen, die damals und auch heute, zahlreich über mein Gesicht strömten, zu schmecken.

Wenige Minuten später war die Badewanne voll mit Wasser gefüllt und ich tastete mich erst heran, bis ich mich schließlich mit meinem nackten Körper in sie sinken ließ und seufzend meine Augen schloss. Der aggressive Klang der Musik erfüllte meine Ohren, doch ließ mich nicht im Geringsten weniger enttäuscht, wütend oder erschüttert werden, was ich ursprünglich gehofft hatte.

Ich wollte vergessen und mich von den bedrückenden Gedanken befreien, die leider wieder in meinem Kopf herumschwirrten. Doch nicht nur sie, sondern auch Louis Worte hallten immer noch in meinen Ohren.

Louis Augen, die mich so verletzt und durchdringend angesehen haben, brannten mir noch immer im Gedächtnis. Alle Emotionen standen ihm klar in ihnen geschrieben und es waren so viele, dass ich sie nicht mehr alle aufzählen konnte. Ich war wütend auf mich, dass ich meinen Kummer damals derartig zu heilen versuchte und mit all den Partys probierte, mich auf andere Gedanken zu bringen.

Wieso ich das getan hatte, war mir mittlerweile ein Rätsel, doch wenn man verletzt worden ist, hat jeder Mensch auf dieser Erde eine andere Art, sich zu heilen. Mein Heilmittel waren die Partys, das feiern und die durchgefeierten Nächte, die mich Dave vergessen ließen und die mich gegen meine Mutter stellen ließen. Ich durchbrach somit alle Erwartungen, die jemals an mich gestellt wurden und zeigte den Leuten, dass ich nicht das nette Mädchen von neben an war, das immer das tat, was meine Mutter von mir sehen und hören wollte.

Wenn ich damals gewusst hätte, dass mir die Feten in der Zukunft eine mögliche gute Freundschaft, die in meiner eigenen Vorstellung vielleicht einmal in einer Beziehung münden könnte, verbauen würden, hätte ich mich gezügelt und meinen Kummer und Frust anderweitig abgebaut.

Meine Mutter hat damals natürlich auch versucht, mich davon abzuhalten, indem sie mir Hausarrest erteilte, mir mein Handy abnahm und mir verbot, Samstagabend auszugehen, doch wenn ich es durfte, dann kam ich nicht vor Morgengrauen nachhause. Ich hatte sie angebrüllt, wenn sie mir keinen Ausgang erlaubt hatte und dann am nächsten Tag hatte ich mich entschuldigt, was meistens dazu führte, dass ich entweder sagte, ich würde bei Freundinnen schlafen und dann anstatt zu ihnen zu gehen, im Club landete oder es brachte uns nur weitere Konflikte. Es war ein Teufelskreis, aus dem ich erst zu spät wieder heraus kam.

Wenn ich heute daran zurück dachte, schüttelte ich meinen Kopf wegen all den Aktionen, die unnötigerweise passiert waren und mittlerweile völlig sinnlos erschienen. Beispielsweise als ich einmal nachts den Drang hatte, nachdem ich auf einer Party war, mitten in der Nacht durch eine Straße rannte und an den Haustüren geklingelt habe. Ich habe die Leute damals wochenlang zur Weißglut getrieben, da ich das wöchentlich in derselben Straße tat und nur so selten erwischt wurde, dass der Adrenalinkick die Vernunft überzeugte.

Mum und Dad wussten beide nicht, was in Holmes Chapel wirklich geschehen war, doch sie kamen mit der Zeit immer mehr dahinter. Bis heute wussten sie nur, dass dort etwas geschehen war, das mich verändert hat, zuerst im negativen, dann im positiven Sinne. Wenn sie mich darauf angesprochen haben, blockte ich ab oder erklärte ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen. Damals war es zwecklos gewesen, denn sie hätten die Informationen nie aus mir herausbekommen. Wieso auch? Ich kam mit ihnen selten klar, also wieso hätte ich ihnen dann meine intimsten Gedanken und den Grund meines Kummers erzählen sollen?

Dave hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Selbstständig, überlegt und zurückgezogen, was Vorteile, aber auch Nachteile mit sich brachte. Ich ließ mich nicht mehr auf ungeplante Sachen ein, war gerne mit den Menschen zusammen, die ich auch wirklich kannte und die mich kannten – mehr brauchte ich nicht.

Louis war nach heute wohl keine Person, die gerne in meinem Leben geblieben wäre, ich konnte es also vergessen, dass wir gute Freunde werden würden. Auf bittere Art und Weise hatte er mir klar gemacht, dass ich verschwinden und mich von ihm und seinen Freunden fernhalten sollte.

Obwohl ich die Zeit mit ihnen genossen hatte und mir wünschte, es hätte nicht so geendet, würde ich mich nicht mehr bei ihnen Blicken lassen.
Scheinbar hatten alle dieses Bild von mir und ich würde mich nicht entwürdigen und dort wieder aufkreuzen. Was ich aber trotzdem machen wollte, war Louis irgendwann die Wahrheit zu sagen und ihm eines Tages zu erzählen, wie es wirklich war. Damit wollte ich ihm keine Schuldgefühle machen, aber er war in der kurzen Zeit für mich zu einer wichtigen Person geworden, die ich nicht missen wollte, doch er ließ mir keine Wahl. Ich wollte nicht, dass er mit dieser Meinung über mich weiterlebte, sondern, dass er wusste, ich habe mich verändert.

Das warme Wasser ließ meine Muskeln entspannen und nahm mir etwas Druck, der jetzt auf mir lastete, ab. Ich atmete tief den Duft nach Badewasser und Öl ein, um mich zu beruhigen, was seine Wirkung aber verfehlte.


♦♦♦♦♦♦



Mums hellblonde Haare waren zu einem strengen Zopf im Nacken zusammengebunden, als sie mir die schwere Glastür öffnete. Zuerst war ihr Blick verwirrt, doch als sie mich sah, begannen ihre Lippen sich zu einem warmherzigen Lächeln zu formen.

„Eleanor, schön dich zu sehen. Komm rein!“, sie trat einen Schritt zur Seite und ließ mich in das Haus treten, das meine Eltern vor wenigen Jahren gekauft hatten, um mir näher zu sein. Sie hatten damals ihr Leben in Manchester aufgegeben, um mir nach London zu folgen.

Der kühle und eher kahl gehaltene Eingang begrüßte mich mit seinen hellgrau gestrichenen Wänden und der metallischen Garderobe, den ich von Anfang an nicht ausstehen konnte.
„Was verschafft uns die Ehre?“ Mum führte mich ins Wohnzimmer, wo eine Tageszeitung aufgeklappt auf dem bordeauxfarbenen Sofa lag. Rasch faltete sie diese zusammen und legte sie gemeinsam mit ihrer Lesebrille auf ein freies Bücherregal.

„Ich wollte euch einfach wieder besuchen, weil ihr so lange weg wart. Wo ist Dad?“, erklärte ich ihr, was zur Hälfte stimmte. Zuhause ist mir die Decke auf den Kopf gefallen, weshalb ich einfach nicht länger nur rumsitzen und an Louis denken konnte. Ich wollte zwar eigentlich nicht zu meinen Eltern gehen, wenn es mir schlecht ging, aber, da ich wusste, dass sie heute aus ihrem Asientrip zurückgekommen waren, habe ich kurzerhand beschlossen, ihnen einen Besuch abzustatten. Vielleicht würde ich später bei Ella vorbeisehen.

„Ja, da hast du wohl recht, wir waren lange weg. Dein Vater ist mit seinen Freunden Batminton spielen. Du kennst ihn doch, er braucht den Sport", lachte sie. "Wie geht es dir?“
Mum machte ausnahmsweise einen ausgeglichenen Eindruck und wirkte entspannt, als sie mir ein Glas Wasser hinstellte und sich auf dem gegenüberliegenden Sofa niederließ. Sie bedeutete mir, sich neben sie zu setzen, was ich auch tat.

„In letzter Zeit ist einiges passiert“, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß, nachdem ich tief durch geatmet habe.
„Ich habe jemanden kennengelernt, bei dem ich dachte, mit uns könnte es funktionieren, aber leider ist es schief gegangen.“
Die Worte, die über meine Lippen kamen, waren eine schlichte Verharmlosung von dem, was eigentlich passiert war, doch für mich war es schon ein großer Schritt, Mum überhaupt freiwillig an meinem Liebesleben Teil haben zu lassen, weshalb ich zufrieden war.

Unwissend, wieso ich ausgerechnet meiner Mutter das alles erzählte, schüttete ich ihr mein Herz aus. In diesem Moment brauchte ich einfach jemanden, der mir nur zuhörte und nicht antwortete.

Mums‘ Stirn legte sich in Falten und sie strich mir vorsichtig mit der Hand über die Schulter.
„Das tut mir leid, Schätzchen. Manchmal soll es einfach nicht sein und wir müssen weiter machen, mit dem, was wir am besten können. Vergessen und so tun, als wäre nichts gewesen.“

Ihre schokoladenfarbenen Augen blickten lange in meine, ehe ich den Kontakt abbrach und meinen Kopf an ihre Schulter legte. Die Emotionen und Eindrücke der vergangen Zeit brachen über mich zusammen und ich begann, die Dinge anders zu sehen. Mum hatte Recht, ich musste ihn vergessen.

"Aber ich kann nicht, denn ich will ihn nicht einmal vergessen."
Ich fühlte mich schwach und merkte, wie ich allmählich meine jahrelang aufgebaute Mauer abbaute und mich so wie ich war vor meiner Mutter präsentierte.
 
"Ich weiß, das ist nicht, was du hören willst, aber Zeit heilt alle Wunden. Egal wie lange du damit kämpst, der Tag, an dem du dich frei fühlst und ihn endlich vergisst, wird kommen."

Ihre Worte waren so ungewohnt für mich, da ich ihr niemals von meinem Liebesleben erzählt hatte und sie dementsprechend auch selten mütterliche Räte ausgesprochen hatte. Sie lächelte mich mitfühlend an und rutschte ein Stück näher an mich heran, als sie mir behutsam ihren Arm um die Schulter legte. Schwach und müde ließ ich mich in ihre Arme fallen und ließ es zu, dass sie mich an sich drückte und mir über mein Haar strich, so wie sie es früher gemacht hatte, wenn ich hingefallen war oder mir weh getan hatte. Früher, als wir noch keine Spannung zwischen uns herrschen hatten, als wir noch gemeinsam in die Welt traten.

Diese ausgeglichene und vertraute Stimmung war uns eigentlich schon lange fremd gewesen, doch das bewies nur die Tatsache, dass man sich in den schlimmsten Situationen wieder näher kommen kann. Mums‘ fürsorgliche Worte, ihre sanften Berührungen und nett gemeinten Versuche, mich wieder aufzubauen, ließen mich für einen kurzen Moment vergessen, wie wir normalerweise zueinander waren.

Kalt und schnell reizbar waren die Worte, die die Verbindung zwischen uns am besten beschrieben. Soweit ich konnte war ich ihr aus dem Weg gegangen, weil sie immer versucht hatte, mich zu kontrollieren und zu einer Person zu machen, die ich nicht war, doch jetzt, stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn wir uns öfters zusammenreißen würden und wieder auf ein miteinander hinarbeiten würden.

„Danke“, flüsterte ich leise, zu leise.

„Dafür bin ich da, Eleanor.“ Sie hatte es gehört.

Und das ließ mich realisieren, dass manche Verbindungen erst zerbrochen werden müssen, um wieder neu aufzuleben.


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