~Kapitel 1~

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„Los, du musst dich beeilen! Sonst kommst du zu spät", ruft mich meine Mutter, die im Flur auf mich wartet, um mich wie fast jeden Morgen mit dem Auto in die Schule zu kutschieren, zum bereits dritten Mal an diesem Morgen.

Ich stehe seit ganzen zehn Minuten im Badezimmer und starre mir selbst im Spiegel tief in die Augen. Das Blau schimmert mir schwach entgegen.

Alleine anhand meiner Ausstrahlung erkennt man, dass es mir bescheiden geht (um nicht zu sagen, beschissen). Bemerken tun es nur die wenigsten meiner Mitmenschen und vielleicht ist es auch besser so, denn sonst wollten sie Erklärungen, die ich nicht liefern möchte oder kann. Es geht sie nichts an.

Seufzend reiße ich meinen Blick von dem mit Wasserspritzern beschmutzten Spiegel und blicke auf mein Handy, dass hinter mir auf dem weißen Rand der Badewanne liegt. Hoffnungsvoll drückt mein Finger drückt auf die Hometaste, um den Bildschirm erhellen zu lassen.

Wieder keine Nachricht...

Enttäuscht nehme ich meinen Blick von dem Gerät und lächele mich traurig im Spiegel an. Seit Wochen warte ich auf eine Antwort von meinem Bruder. Ich hatte ihm geschrieben, dass wir uns bald sehen würden, weil ich für einen Monat in ein Militärcamp musste. Das Camp würde in dem Stützpunkt stattfinden, wo auch Liam, mein Bruder, seinen Beruf ausübt.

Eigentlich wollte ich dort gar nicht hin. In ein Camp, in dem man Sport treibt und morgens um vier Uhr aufstehen muss. So stelle ich es mir zumindest vor. Liam erzählt nie etwas von der Army, wenn er hier zu Besuch ist. Er meint dann immer, dass er nun Zuhause seie und nicht über die Arbeit sprechen möchte. Also lasse ich ihn jedes Mal mit dem Thema in Ruhe. In zwei Wochen werde ich selbst erfahren, wie es dort ist.

Jetzt fragt ihr euch wahrscheinlich, warum ich denn in ein Camp gehe, in das ich gar nicht will. Tja, die Lehrer an unserer Schule haben darauf bestanden, dass die Eltern das Camp für ihre Kinder aussuchen. Meine Mutter fand es eine tolle Idee mich zu meinem Bruder zu schicken. Mein Vater sagte nichts dagegen und so gab es keinen Widerspruch. Die Formulare für das Militärcamp wurden ausgefüllt und jetzt steht es fest. Ich würde dort hingehen.

Meinem Bruder scheint es egal zu sein, denn er meldet sich nicht bei mir oder sonst wem. Er ist total abgeschattet von uns. Ich kann ihn keines Wegs verstehen. Seitdem er in der Army ist, hören wir nur noch selten von ihm. Und wenn er hier bei uns war, war die Atmosphäre immer total seltsam. Meine Mutter sah er abwertend an. Mich ignorierte er oder vermied generell Blickkontakt und mit meinem Vater redete er auch nur das Nötigste. Es kam manchmal so rüber, als wäre er nur hier, weil er nicht weiß, wo er sonst hin kann, wenn er frei hat.

Einmal, da war er mit mir alleine in meinem Zimmer. Ich erinnere mich genau daran, wie er mich ansah und ich Mitleid in seinen grünen Augen erkennen konnte. Er sagte wie aus dem Nichts: „Es wird alles gut. Versprochen."

Bis heute kann ich nicht verstehen, was er mir damit zeigen wollte. Ich verspürte das Bedürfnis zu fragen, doch er ließ mich nach diesen Worten alleine in meinem Zimmer zurück. Seit dieser Sekunde an hatte ich ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Es müsste nun ein halbes Jahr her sein.

„Charlie, komm bitte. Es ist schon spät", drängelt meine Mutter mit einem genervten Unterton in der Stimme. Kurz schließe ich meine Augen und atme einmal tief ein und wieder aus, bevor ich die Türklinke runterdrücke und den Raum verlasse.

Im Flur werfe ich meiner Mutter einen kurzen Blick zu, bevor ich mir Jacke und Schuhe anziehe. Sie steht vor der offenen Tür und wartet ungeduldig, dass ich endlich fertig werde.

Ihre Haare sind streng zu einem Zopf nach hinten gebunden. Sie hat ziemlich kurze Haare, sodass der Zopf nur ganz klein ist.

Würde man sie nicht kennen, könnte man denken, dass sie streng ist und immer lauthals ihre Meinung preisgibt. Vielleicht stimmt das sogar. Doch trotzdem kann ich nicht behaupten, dass sie mich nicht liebt. Sie kümmert sich immer um mich. Ist immer für mich da und tröstet mich, wenn ich traurig bin. Sie ist eine gute Mutter. Aber aus irgendeinem Grund spüre ich immer eine gewisse Entfernung zwischen ihr und mir. Erklären kann ich es mir jedoch nicht. Möglicherweise ist es bei jedem so und ich weiß es bloß nicht, weil ich keinen Vergleich habe.

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