Liam liegt auf seinem Bett und hält sein Handy über seinem Gesicht. Immer wenn ich das mache fällt es mir urplötzlich aus der Hand und knallt mir volle Kanne ins Gesicht. Das ist der Grund, warum ich diese Position vermeide. „Hey", begrüße ich ihn. Er löst seinen Blick von seinem Handy: „Hi." Er wendet sich direkt wieder an den Bildschirm. Mit wem er wohl schreibt? Hat er eine Freundin? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Soweit ich weiß, hatte er mal eine Beziehung mit so einem Mädchen, die bei ihm in die Nachbarklasse gegangen ist, aber die haben sich nach drei Wochen wieder getrennt.
Er war da in der neunten Klasse. Ehrlich gesagt, mochte ich dieses Mädchen nicht. Sie war wie besessen von Liam. Ständig hing sie an seinem Arm und machte ihm schöne Augen. Liam durfte nie andere Mädchen treffen oder sie auch nur ansehen. Da war sie schon eifersüchtig. Sie hingegen konnte mit jedem Jungen normal umgehen und sich mit ihnen treffen. Generell hatte sie eine seltsame Art. Ich war froh, als sie sich getrennt haben. Mag sich böse anhören, aber glaubt mir, ihr wärt an meiner Stelle genauso froh gewesen.
Ob er seitdem eine neue Freundin hat? Erzählt hat er nie was. Ich gehe auf ihn zu: „Was hat der Arzt gesagt?" Er sieht zu mir auf: „Hä... Was?" Ich muss grinsen: „Was der Arzt gesagt hat?" Er legt seine Hände auf seinem Bauch ab: „Achso... äh ... ja. Es ist alles in Ordnung. Der hat mir so eine Salbe gegeben und ich soll den Fuß weiter schonen. Aber sonst alles okay." Ich setze mich langsam zu ihm auf sein Bett. Ich fühle mich wie eine alte Frau, die sich nur eingeschränkt bewegen kann, da ihr sonst irgendwas weh tut. Liam hebt sein Handy wieder und tippt darauf herum. „Mit wem schreibst du?", frage ich neugierig.
Er grinst: „Was?" Also langsam nervt es. Ich haue ihm auf das Bein: „Liam, hör mir doch zu! Mit wem schreibst du?" Er setzt sich im Schneidersitz auf und sieht mir in die Augen: „Warum so neugierig?" „Ach Liam. Bitte sag es mir. Hast du eine Freundin?", bettele ich. Er zuckt die Schultern: „Vielleicht." „Warum hast du nie was von ihr erzählt?", hake ich nach. Ich halte seinem Blickkontakt stand.
Er legt seine Hände auf meine Schultern und kommt mir mit seinem Gesicht ganz nahe. Leise flüstert er: „Weil ich noch daran arbeite. Es ist eine Art geheime Mission. Wenn wir zusammen sind, plündern wir eine Gummibärchen-Fabrik und müssen dann nie wieder Essen kaufen. Dann werden wir reich, kaufen uns irgendwo eine Villa und haben ein schönes Leben."
Ich lehne mich nach hinten und schüttele lachend den Kopf: „Du bist schon doof, Liam. Weißt du das?" Er lacht ebenfalls und nimmt seine Hände von meinen Schultern: „Ich habe keine Freundin. Wo sollte ich jemanden kennengelernt haben?" Ich zucke die Schultern: „Keine Ahnung. Im Stützpunkt gibt es auch Frauen." „Nein, ich habe keine Freundin", bestärkt er nochmal. „Wo warst du eben?", fragt er. „Bei dem Psychologen", antworte ich. „Ist es so schlimm mit den Träumen?" Ich sehe aus dem Fenster. Am Himmel fliegt ein Flugzeug vorbei. Hinter sich hinterlässt es einen weißen Kondensstreifen. „Ich wollte mit jemanden mal über alles reden", sage ich. „Aber du weißt, dass du auch immer zu mir kommen kannst?" Er hat so viel Fürsorglichkeit in seiner Stimme, die einem glatt Gänsehaut bereitet.
„Ja, das weiß ich." Mir fällt ein, dass ich ihn fragen wollte, wie ich hierher gekommen bin. Ich meine, als ich in Ohnmacht gefallen bin, sah das alles ja echt aussichtslos aus. „Liam?" „Mh?" Mein Blick hängt noch immer an dem vorbeifliegen Flugzeug: „Wie bin ich hierher gekommen?" Im Augenwinkel sehe ich, dass er verwirrt ist: „Wie meinst du das?" Ich löse meinen Blick von dem Flugzeug, da es aus meinem Sichtfeld verschwunden ist: „Naja, als wir vor dem Gebäude waren, waren nirgends Krankenwagen. Und im Gebäude war die Lage nicht gerade besser. Wie bin ich ins Krankenhaus gekommen?"
Liam sieht mich mit ernster Miene an: „Ach das meinst du. Nachdem du in Ohnmacht gefallen bist, wussten wir, dass du schnell Hilfe brauchst, da es sonst echt zu spät gewesen wäre. Wir wussten genauso, dass es aussichtslos ist alleine nach draußen zu kommen. Kurz darauf sind Leute von unserem Stützpunkt gekommen und haben gesagt, dass die Verstärkung bereits angekommen ist. Das war wahrscheinlich da, als die Gegner abgelenkt waren, weil auf einmal so viele von uns dort waren. Unsere Leute waren stärker und haben die Gegner besiegt. Einige wurden festgenommen. Eine halbe Stunde nachdem die Verstärkung da war, kamen auch Krankenwagen und dann haben wir dich zu einem gebracht. So bist du hergekommen."
Da hatten wir echt Glück, dass die Krankenwagen gekommen sind. Sonst würde ich jetzt nicht hier sitzen. Das ist eine krasse Vorstellung. Es hätte womöglich nur eine halbe Stunde länger dauern können, bis die Krankenwägen da gewesen wären und jede Hilfe wäre zu spät gewesen. Ich wäre gestorben. Bei diesem Gedanken muss ich schwer schlucken. Ich will nie wieder in so einer Situation sein. Wenn ich jetzt daran denke, ist es mindestens genauso schlimm. Wie kann man sowas als Job machen?
Ich bewundere die Menschen, die sich das trauen und ihr Leben für das unsere riskieren. Ich hätte nicht den Mut dazu. Es mag ein Unterschied sein, weil die Soldaten eine Ausbildung haben und ich nicht, aber trotzdem ist ihre Arbeit keineswegs zu unterschätzen. „Danke", sage ich leise. Liam runzelt die Stirn: „Für was?" „Dass ihr mir das Leben gerettet habt." Ich kämpfe mit den Tränen, weiß aber gar nicht warum ich weinen muss.
Das ist vielleicht alles zu viel für mich. „Charlie, das ist selbstverständlich. Du bist meine Schwester. Ich würde alles für dich tun." Liam nimmt mich in den Arm. Ich erwidere diese wohltuende Umarmung. Ich fühle mich gut bei ihm. Bei ihm weiß ich, dass er alles ernst meint, was er zu mir sagt und das Wichtigste ist, dass ich ihm vertrauen kann.
Durch das Öffnen der Tür fahren wir auseinander. Zu meiner Überraschung ist es Hensley, der hereinspaziert: „Guten Tag, Miss und Mister Bennett." Er hält mir seine Hand hin. Ich nehme sie entgegen: „Guten Tag." Sein Handdruck ist fest. Fast denke ich, dass er mir die Hand bricht. Ich gebe mir Mühe, dass man das in meinem Gesichtsausdruck nicht erkennen kann. Er lässt meine Hand los und wendet sich an Liam. Kaum merklich schüttele ich meine Hand aus.
„Sir", begrüßt Liam den Colonel. Dabei steht er kurz auf. Hensley nimmt auf einem der Stühle Platz: „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen Miss Bennett, dass Sie in so eine Lage gekommen sind. Wir bedauern sehr, dass es so weit gekommen ist und hoffen, dass es Ihnen trotzdem bei uns gefallen hat. Sie sollen nicht nur dieses Bild im Kopf behalten, wie es vorgestern passiert ist, sondern wissen, dass es auch gute Seiten gibt. Wie Sie wissen, denke ich, dass das ein Ausnahmefall war. Es tut mir leid."
Ich lächele leicht: „Sie können nichts dafür und niemand hätte es vorher wissen können. Ich behalte auch viele gute Erfahrungen bei mir, denn ich habe bei Ihnen viel gelernt und habe neue Freunde gefunden. Es war eine schöne Zeit." Mister Hensley lächelt: „Das freut mich. Und ich wollte sagen, dass ich denke, dass Matthew Bradshaw wohl ziemlich viel an Ihnen liegt. Er musste unbedingt zu Ihnen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Also pflegen Sie diese Freundschaft oder was das zwischen Ihnen auch immer ist. Ohne, da jetzt zu privat zu werden."
Er streicht sich über seine Glatze und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Liam findet das Ganze alles andere als gut. Das kann man an seinem Gesichtsausdruck ablesen. „Ja, ich werde mir Ihren Rat annehmen. Danke", lächele ich. Ich verstehe echt nicht, was alle gegen ihn haben. Der ist ja wohl voll locker drauf. Möglich, dass er beim Training anders ist, aber da habe ich ihn nicht und deswegen ist es mir auch egal.
*
Am Abend bin ich erschöpft. Nachdem der Colonel gegangen ist, kamen Carolina und Emely vorbei. Die beiden haben die letzten Tage gut überstanden. Voller Stolz erzählte Emely, dass es Julian gut gehe und dass er sich ja solche Sorgen um Emely gemacht habe. Julian war auch im Krankenhaus, konnte aber schon gestern entlassen werden. Bei mir ist es morgen soweit. Dann fahren wir nach Hause. Zumindest hat Liam gesagt, dass wir erst zum Stützpunkt fahren und dort unsere restlichen Sachen rausholen. Dann muss ich mit dem Bus zurück zur Schule fahren und von dort aus fahren Liam und ich zu Teresa und Davis, um mein Hab und Gut abzuholen.
Wenn ich alles habe, geht's ins neue Heim. Die Wohnung ist einzugsbereit. Ich freue mich darauf. Morgen wird es aber mehr schlechte Sachen geben, als gute. Ich muss Lizzy sagen, dass Nick den Angriff nicht überlebt hat. Und weil das nicht reicht, muss ich dann noch meinen angeblichen Eltern gegenübertreten und ihnen sagen, dass ich zu Liam ziehe. Das wird ein anstrengender Tag. Ich bin jetzt schon glücklich, wenn ich ihn hinter mich gebracht habe.
Ab Mittag dürfen wir hier raus. Dann muss ich mich meinen Ängsten stellen. Und erlebe Dinge, die ich nicht erwartet hätte.

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Inexcusable
RomanceCharlie Bennett, ein Mädchen, das hautnah erfahren muss, wie es sich anfühlt sein ganzes Leben lang mit einer Lüge aufzuwachsen, muss in ein Camp, um dort die Wahrheit über ihre gesamte Geschichte zu erfahren. >> Es war wie ein Schlag direkt ins Ges...