Ich weiß nicht, wie lange ich auf dieser Bank sitze. Auf jeden Fall ist es jetzt dunkel und ich bin mir sicher, dass nur noch wenige sich außerhalb des Gebäudes befinden. Mit dem Weinen habe ich aufgehört. Ich starre einfach in die Leere. Wenn es eine Grenze gibt, wie viele Tränen man vergießen kann, dann habe ich diese definitiv überschritten. Meine Augen brennen, da ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr geblinzelt habe. Vielleicht kennt ihr es, wenn ihr über etwas nachdenkt und dann vergesst euren Augen eine Auszeit zu gönnen, weil ihr einfach irgendwo hinschaut und nichts anderes mehr beachtet. Euch nichts sehnlicher wünscht, als selbst eine Pause einlegen zu können.
Ich reiße mich selbst aus meiner Starre und blinzele. Ich lege meinen Kopf auf meinen Armen ab, die auf meinen Knien legen. Meine Hände sind kalt. Aber es ist mir egal. So wie alles andere in diesem Moment. Ich kann es einfach nicht verstehen, wieso mir niemand gesagt hat, dass ich nicht bei meinen leiblichen Eltern lebe. Es muss doch einen anderen Grund geben außer, dass sie sich nicht getraut haben.
Ich zucke zusammen, als sich plötzlich etwas über mich legt. Ich hebe meinen Kopf und sehe auf die Bank neben mich. Es ist Liam. Er hat eine Jacke über mich gelegt. Wäre mir nicht so kalt, würde ich sie nicht annehmen, doch ich bin für jede noch so kleine Erwärmung dankbar. Liam setzt sich neben mich. Hätte nicht gedacht, dass er nach der Aktion eben noch mit mir reden will. Vielleicht war es falsch, dass ich ihn vor den anderen geschlagen habe. Andererseits bereue ich es nicht. Ich bereue nichts, denn ich habe nichts falsches getan. Nicht ich habe anderen etwas verschwiegen, was so ausschlaggebend ist. Das waren sie ganz alleine.
Ich wende meinen Blick von meinem Bruder ab. Er sagt nichts, sondern sitzt einfach still neben mir. Es erinnert mich an früher, wenn wir zusammen im Garten saßen und in die Sterne geguckt haben. Er zeigte mir dann manchmal Sternbilder, die er kannte. Im Kontrast zu damals waren wir früher aber glücklich. Davon kann man heute nicht reden. Unsere Beziehung ist zerstört. Ich befürchte, dass man sie nicht so leicht wieder aufbauen kann. Es ist wie ein Band, dass jeden Menschen mit jedem verbindet. Gleichzeitig trägt jeder eine Schere mit sich. Es steht ihm frei, ob er sie einsetzt oder nicht. Bei uns wurde sie verwendet, denn unser Band ist zerschnitten. Wir beide haben dazu beigetragen, dass es so weit gekommen ist. Möglicherweise hat er es durchgeschnitten, doch ich habe es gesehen und nichts dagegen unternommen. Also bin ich mit schuldig.
„Es tut mir leid, dass ich eben in der Mensa so beschissen zu dir war",
entschuldigt er sich plötzlich bei mir. Seine Stimme ist bedrückt. Wahrscheinlich von all den Ereignissen in die Ecke gedrängt.„Was willst du hier?", entgegne ich kalt.
„Ich möchte dir die ganze Wahrheit erzählen, Charlie." Ich drücke meine Augen zu. Nicht weinen! Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken. „Bitte sieh mich an!", fordert er mich auf. Ich kann hören, dass er die Schluchzer unterdrücken muss. „Bitte." Ich öffne meine Augen und drehe meinen Kopf langsam in seine Richtung. Liams Augen sind wässrig.
Meine Unterlippe beginnt zu zittern. Ich will stark bleiben. Nicht weinen. Ich will nicht wie eine Memme wirken. Früher hätte ich nie an sowas gedacht. Vor Liam konnte ich ich sein. Ich konnte eine Memme sein. Es hat ihn nicht gejuckt, da er mich geliebt hat. Und ich ihn. Es hat sich zu viel zwischen uns verändert.
„Ich denke, dass du alles wissen solltest. Du bist alt genug dazu. Ich wollte es mir lange nicht eingestehen und habe immer versucht dieses Thema zu meiden, doch ich schätze, dass ich derjenige bin, der dich jetzt über unsere familiären Verhältnisse aufklären sollte", er sieht mir fest in die Augen. Ich nicke, um ihm meine Zustimmung zu geben. Aus einem mir unbekanntem Grund bleibe ich sitzen, anstatt aufzustehen. Den Drang zu rennen unterdrücke ich.
Ich will seine Erklärung hören. Meine Wut steht im Hintergrund. Ich bin bereit die Wahrheit zu erfahren. Nervös knetet er seine Finger durch. Sein Blick ruht auf mir. „Okay... dann fangen wir mal von vorne an." Scharf zieht er Luft ein, die er langsam entweichen lässt.
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Inexcusable
RomanceCharlie Bennett, ein Mädchen, das hautnah erfahren muss, wie es sich anfühlt sein ganzes Leben lang mit einer Lüge aufzuwachsen, muss in ein Camp, um dort die Wahrheit über ihre gesamte Geschichte zu erfahren. >> Es war wie ein Schlag direkt ins Ges...