~Kapitel 14~

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Ich warte ab, was er tun wird. Soll ich zu ihm gehen? Wird er mich zu sich winken? Die Zeit steht still für den Moment, wo sich unsere Augen treffen. Was er dann tut, hätte ich nie im Leben erwartet. Er sieht weg und humpelt mit seinen Krücken weiter, als wäre nichts gewesen. Als hätte er mich nicht gesehen. Sein Blick ist nach unten gesenkt. Alles was ich in diesem Moment spüre ist Enttäuschung und Einsamkeit. Er lässt mich alleine. Hat er mich nicht erkannt? Das kann nicht sein. Wer erkennt denn seine eigene Schwester nicht wieder? Dann müsste er schon ganz schön dumm sein und das ist er nicht. Dafür hat er mich zu lange angesehen.

Meine Augen brennen. Einerseits, weil sich Tränen in ihnen bannen und andererseits weil ich seit einiger Zeit nicht mehr geblinzelt habe. Ich befinde mich in einer Starre. Tief in mir drin ist etwas zerbrochen und das tut mehr weh als alles andere. Mit vielen Reaktionen hatte ich gerechnet, aber nicht mit dieser. Wie als würde er mich nicht kennen, geht er weiter. Als wäre ich niemand, den man begrüßen sollte, weil man ihn über einen langen Zeitraum nicht gesehen hat.

Beinahe bin ich dabei auf die Knie zu sinken und mich hier in das Gras zu legen. Doch meine Beine halten es aus, wenn auch zittrig.

„Warum?", hauche ich schluchzend. Ich kann die Tränen nicht länger zurückhalten und lasse ihnen freien Lauf. Eine Träne rollt über meine rauen Lippen. Ein salziger Geschmack verbreitet sich in meinem Mund.

In der Ferne sehe ich, wie alle Soldaten, die soeben angekommen sind, durch einen Seiteneingang in das Gebäude gehen. Das Licht der Lampen geht aus und ich stehe größtenteils im Dunkeln. In der Einsamkeit. Warum tut er mir das an? Ich dachte, dass Geschwister zusammenhalten. Mal wieder habe ich falsch gedacht. Er lässt mich links liegen, wie wenn man ein Papier wegwirft, weil man es voll gekritzelt hat und es zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Jetzt wehe ich einsam im Wind herum und komme nur wieder auf der Erde auf, wenn mich jemand aufhält.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stehe. Vielleicht Minuten. Vielleicht auch nur Sekunden, aber vielleicht sind es auch Stunden. Ich habe keine Ahnung. Es ist mir auch egal. Das Einzigste, das ich bemerke sind die Tränen, die auf meinen Wangen trocknen. Der Wind, der meinen kalten, geschwächten Körper umschließt und das Zittern meiner Beine. Ich weiß auch nicht, warum ich so lange dort stehe. Es könnte daran liegen, dass da noch ein Funken von Hoffnung ist, dass Liam wieder herauskommt. Mit dem starken Windzug ist auch dieser klitzekleine Funken erloschen und meine Beine tragen meinen mickrigen Körper zurück zu dem Gebäude. Auf dem Weg kommen mir zwei Soldaten entgegen, die mich nicht weiter beachten.

Ich komme an dem Eingang an und ziehe sie Tür auf. Sie wirkt besonders schwer. Das Licht blendet mich, sodass ich mir die Augen am Anfang abschirmen muss. Schweren Schrittes gehe ich die Treppen hoch. Die Schritte hallen noch lauter als zuvor wieder. Oben im Gang schlurfe ich gesenkten Blickes zu unserem Zimmer. Eine Frau kommt mir entgegen. Es ist das erste Mal, dass ich jemand anderen auf diesem Flur sehe.

Mitleidig sieht sie mich an: „Kann ich dir helfen?" Eigentlich will ich nicht antworten, aber ich finde es auch unhöflich einfach weiterzugehen, weswegen ich den Kopf schüttele und ihr ein schmerzerfülltes Lächeln schenke. Vor meinem Zimmer hole ich den Schlüssel aus der Tasche und stecke ihn in das Schloss. Ich drehe ihn zweimal rum und die Tür springt auf.

Die anderen sind nicht da. Ich schließe die Tür hinter mir und lehne mich mit dem Rücken daran. Im Zimmer ist es dunkel. Erneut breche ich in Tränen aus. Nennt meine Reaktion übertrieben! Ihr könnt euch nicht in meine Lage herein versetzen. Das können nur die wenigsten Menschen. Ich gleite an der Tür herunter und lege den Kopf auf meine Knie.

So verweile ich, bis ich befürchte, dass die anderen kommen werden. Dann schalte ich das Licht an und gehe ins Bad, wo ich mir die Zähne putze. Im Zimmer ziehe ich mir meine Jogginghose und ein frisches T-Shirt vom Militär an. Dann schalte ich das Licht aus und krieche unter die Decke auf meinem Bett. Es dauert nicht lange, bis ich Schritte auf dem Gang höre, die sich meinem Zimmer nähern. Ich ziehe die Decke ein Stück höher, damit den beiden nicht direkt mein verheultes Gesicht ins Auge sticht.

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