Gedankenverloren betrachtete ich die Menschen, die an mir vorbei liefen. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, jeder hatte seine eigene kleine Arbeit, die er erledigen musste. Ein kleiner Mann schob gerade einen mit Heu beladenen Wagen an mir vorbei und übertönte somit die Stimmen, die auf der anderen Straßenseite miteinander sprachen. Dort stand Margot und unterhielt sich angeregt mit zwei Herren, der Kleidung nach vermutlich Bauern. Hauptsächlich sprach sie mit dem älteren der Beiden. Er hatte graue Haare, ein paar Fältchen und einen angestrengten Blick.
Der Junge daneben, wahrscheinlich sein Sohn, war höchstens ein paar Jahre älter als ich. Er hatte strohblonde Haare, war braungebrannt und sah schon die ganze Zeit zu mir herüber. Ihn schien das Gespräch nicht zu interessieren. Stattdessen starrte er mich ungeniert an. Sein Blick machte mich nervös, auf keine schöne Art. Absichtlich lenkte ich mich deshalb damit ab, die anderen Menschen in ihrer Tätigkeit zu beobachten. Nun aber, als der Heuwagen an mir vorbeigefahren war, überquerte der Junge plötzlich die Straße und kam zu mir. „Hey!" grüßte er mich mit einem selbstsicheren Grinsen. Dabei traten weiße Zähne zum Vorschein. Das wunderte mich, denn die meisten Bauern hatten nicht genug Geld um sich Hygieneartikel wie Zahnbürsten zu leisten.
Statt ihm zu antworten sah ich den Jungen unschlüssig an. Was wollte er von mir? Er ließ sich nicht beirren und sprach weiter. „Ich hab gehört, du und deine Mutter wollen nach Dyandra. Ist es hier nicht mehr schön für euch? Oder seit ihr auf der Durchreise? Oder seit ihr auf der Suche nach einem Mann für dich?" Während er mich ausfragte, hüpfte der kleine Leberfleck auf seiner Nase auf und ab. Als ich wieder keine Antwort gab, trat er noch einen Schritt näher. Eindeutig zu nahe für meinen Geschmack. Ich trat deshalb sofort einen Schritt zurück und sah wieder zu Margot in der Hoffnung, sie würde ihr Gespräch bald beendet haben. Neben mir hörte ich ein: „Also wenn ihr auf der Suche seid: zufälligerweise bin ich noch zu haben!"
Ich sah nicht hin, doch ich konnte das anzügliche Grinsen deutlich heraushören. In dem Moment drehte sich Margot zum Glück zu mir um und winkte mich zu ihr. Nur zu gerne folgte ich ihrer Bitte. Der ältere Herr unterdessen griff sich seine Arbeit wieder und winkte seinen Sohn zu sich, damit dieser ihm helfen konnte. Dieser sah mit gespielter Enttäuschung zu mir, wandte sich dann jedoch seinem Vater zu und ging mit ihm davon. Margot wandte sich währenddessen an mich: „Tia, Liebes, der nette Herr hat mir den Weg beschrieben. Kommst du?" Sie hielt mir ihre Hand hin. Ich nahm sie und wir gingen los. Meine zierliche Hand wirkte in ihrer verschwindend klein.
Während wir liefen hatte ich Zeit sie zu beobachten. Sie war eine dickliche Frau, trug ein schlichtes braunes Leinenkleid und eine dunkelgrüne Schürze. Man sah ihr an wie tüchtig sie war und wie hart sie arbeiten konnte. Ihre dunkelbraunen Haare waren in einem Knoten zusammengebunden, und trotz der einzelnen grauen Strähne und der leichten Fältchen um die Augen sah sie nicht älter aus als 35. Ihre braunen Augen verrieten die Warmherzigkeit und Güte, die in ihr steckten. Sie war einfach eine tolle Frau. Sie kümmerte sich um mich als wäre ich ihre Tochter. Für mich war sie die einzige Familie, die ich noch hatte. Und nun musste ich mich auch noch von ihr trennen...
Wir liefen einen Feldweg entlang, vorbei an Wiesen und Feldern, auf denen die Bauern ihre Saat streuten. Es war früher Frühling. Vereinzelte Vögel zwitscherten in der Luft und verbreiteten eine Fröhlichkeit, die nicht zu unserer bedrückten Stimmung passte. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto mehr spürte ich den Kloß in meinem Hals. Margot versuchte zwar sorglos zu wirken, doch ich konnte ihre Traurigkeit spüren. Ihr viel es ebenfalls nicht leicht, mich wegzuschicken. Vor allem da sie wusste, was ich durchgemacht hatte.
„Wir sind da." riss mich ihre Stimme aus meinen Gedanken. Verwirrt sah ich auf. Da stand eine Kutsche. Sie war nicht edel, sah bereits ein wenig mitgenommen aus und es war nur ein Pferd davorgespannt, aber dennoch. Es war eine Kutsche. Entsetzt sah ich sie an. Sie ignorierte meinen Blick, lief zum Kutscher und gab ihm einen Zielort sowie ein Säckchen mit Geld. Entsetzt lief ich ihr hinterher und zog sie am Arm. Sie wusste, was ich sagen wollte. Sie konnte doch nicht einfach so viel Geld für mich ausgeben! Doch sie schüttelte nur vehement mit dem Kopf.
„Ich werde doch nicht zulassen, dass du in ein anderes Königreich läufst! Bei den ganzen Gefahren, die dir auf dem Weg passieren könnten... Nein, das kommt gar nicht in Frage!"Sie sah so besorgt aus, dass ich plötzlich den Tränen nahe war. Ohne Vorwarnung stürtzte ich mich in ihre Arme. Sie erwiderte die Umarmung und drückte mich ganz fest an sich. Dann ließ sie mich los und drückte mir eine Tasche in die Hand, die meine wenigen Habseligkeiten enthielt. Bis eben hatte sie darauf bestanden, sie selbst zu tragen, nun musste sie es mir überlassen. Nur schweren Herzens stieg ich in die Kutsche und hatte Mühe meine Tränen zurückzuhalten. Als die Tasche neben mir platziert und die Tür geschlossen war, lehnte ich mich aus dem Fenster um Margots Hände zu greifen. Sie sah mich liebevoll an. „Es wird dir gut gehen, das weiß ich. Und du wirst klarkommen alleine. Du bist stark! Und außerdem ist es ja nicht für immer. Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich dir, Liebes."
Wenn sie könnte, würde sie mit mir gehen, das wusste ich. Doch sie hatte hier ihre eigene Familie. Sie konnte nicht einfach so gehen. Ich lächelte, dankbar für diese aufmunternden Worte. „Eines noch, mein Kind: Vergiss niemals wer du bist und was du alles schaffen kannst! Versprich mir das, in Ordnung?" Ich nickte. Unfähig etwas anderes zu tun. Sie lächelte mich aufmunternd an. Dann ließ ich ihre Hände los und kreuzte meine über der linken Brust. Das war unser Zeichen „Ich hab dich lieb" zu sagen. Ihr trauriges Lächeln wurde breiter, bevor sie ebenfalls ihre Hände über ihrer linken Brust kreuzte.
„Lass von dir hören, sobald du dich eingelebt hast." bat sie noch, dann trat sie ein paar Schritte zurück und gab dem Kutscher ein Zeichen, loszufahren. Es ruckelte, dann setzte sich die Kutsche in Bewegung. Margot winkte mir zum Abschied zu und ich winkte ebenfalls. So lange bis die Frau schließlich nur noch ein schwarzer Punkt am Horizont war und wir hinter einer Biegung verschwanden. Ein paar Momente lang sah ich noch zurück, dann zog ich den Kopf aus dem Fenster und setzte mich aufrecht hin. Dabei schluckte ich den Kloß hinunter und starrte an die Wand. Jetzt würde also mein neues Leben beginnen. In einem fremden Land. An einem fremden Königshof. Bei fremden Personen. Ganz alleine.
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Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...