Der Mann hatte kurze dunkle Haare und ein mageres Gesicht, aus dem mich ein paar blauer Augen fragend ansah. Vielleicht auch ein wenig verwirrt. Als er erkannte, dass ich im Begriff war mit ihm zu sprechen, hob er sofort abwehrend die Hände und gab ein paar unkontrollierte Laute von sich. Ich lächelte ihn freundlich an. Seltsamerweise war ich ihm gegenüber überhaupt nicht schüchtern, im Gegensatz zu Brunna und ihrem Vater. Vielleicht lag es daran, dass ich in ihm eine Art Verbündeten sah. Vorsichtig setzte ich mich auf den Stuhl neben ihm und vergaß dabei den Rest um mich herum. Dann hob ich die Hände, sah ihm weiterhin in die Augen und gebärdete langsam:
Kannst du mich verstehen?
Die Augen des Mannes wurden größer. Hastig ließ er den Löffel in seiner Hand fallen und hätte dabei beinahe seine Suppe verschüttet. Eilig gebärdete er mir zurück.
Du sprichst meine Sprache?
Lächelnd nickte ich. Dann führte ich die Unterhaltung fort.
Mein Name ist Tia. Und du?
Er bewegte seine Hände, um mir zu antworten. Sie waren genauso abgemagert wie der Rest von seinem Körper, bewegten sich jedoch spielend leicht.
Ich bin Ohio.
Ein schöner Name. Antwortete ich ihm ehrlich. Dann legte mir jemand die Hand auf die Schultern und ich zuckte kurz zusammen. Erst dann erkannte ich Kilian neben mir, der mich mit Stolz in den Augen ansah. „Und? Was sagt er?" wollte Albrecht nun wissen. Eilig schrieb ich seinen Namen auf. Albrecht nickte. „Gut. Und wie alt ist er? Wo kommt er her? Kannst du ihn das auch fragen?" Brunna fügte noch schmunzelnd ein „Bitte." zum Wunsch ihres Vaters hinzu. Nickend wandte ich mich wieder Ohio zu, der das Geschehen staunend verfolgte.
O: Du kannst sie hören?
T: Ja.
O: Wieso kannst du dann die Gebärdensprache?
T: Ich spreche nicht. Auf diese Weise kann ich mich verständigen.
O: Aber die können mich nicht verstehen...?
T: Nein.
O: Wieso kannst du dich dann mit Gebärdensprache verständigen?
T: Das konnte ich nur mit meiner Familie. Anderen Menschen teile ich auf dem Papier mit, was ich will.
O: Und wieso sprichst du nicht?
T: Das sage ich dir, wenn du mir auch ein paar Fragen beantwortest. Das habe ich diesen Menschen hier nämlich versprochen. Sie wollen dir helfen, aber das geht natürlich nur, wenn sie dich verstehen können und umgekehrt.
O: Einverstanden. Diese Menschen waren sehr nett zu mir. Obwohl sie mich nicht verstanden haben. Das ist mir noch nicht oft in meinem Leben passiert.
T: Wie alt bist du denn? Und wo kommst du her?
O: Ich bin jetzt 34 und komme ursprünglich aus dem Süden von der Landesgrenze.Ein Räuspern von Albrecht unterbrach unser Gespräch. Ich war so vertieft in die Unterhaltung, dass ich meine Außenwelt erneut vergessen habe. Die bestand darin, dass Albrecht mich abwartend, Brunna neugierig und irgendwie bewundernd und Kilian mich amüsiert ansah. Er schien zu sehen, wie sehr ich die Unterhaltung genoss. Schnell schrieb ich die Fakten auf, die ich erhalten hatte. Dann sprach ich weiter mit Ohio. Meine Finger konnten es gar nicht erwarten, weitere Wörter zu zeigen und Antworten zu erhalten. Es tat so gut, einfach gleich sagen zu können was ich wollte, ohne zuvor den mühseligen Aufwand betreiben zu müssen, alle Wörter aufzuschreiben. Diese neue Schnelligkeit, mit der ich kommunizieren konnte, war so...erfrischend. Wieder nickte Albrecht und meinte: „Gut. Ich danke dir. Bitte frag ihn auch, wie lange er hier bleiben will." Brunna schien zu merken, das die Frage ziemlich unhöflich klang, deshalb setzte sie schnell hinzu: „Er darf natürlich so lange bleiben, wie er möchte. Wir müssen uns nur darauf einstellen." Ich übersetzte die Frage. Ohio dachte kurz nach. Sein Gesicht sah schuldbewusst aus, als er meinte:
Seit ich denken kann lebe ich in Armut, weil mich niemand anstellen will. Aber hier, bei diesen Menschen, bin ich sehr gerne. Sie haben mich wie einen Menschen behandelt und mir geholfen, ohne mich zu verstehen. Aber ich möchte ihnen nicht zur Last fallen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, wie ich für die Mahlzeiten und die Unterkunft, die sie mir bieten, bezahlen kann, bleibe ich gerne. Mein Vater hat mich Handwerksarbeiten gelehrt, wenn das hilft.
Ich brauchte eine Weile bis ich seine Worte aufgeschrieben habe. Nachdem Brunna sie gelesen hatte, nickte sie begeistert. „Das wäre super! Vater könnte Unterstützung gebrauchen. Nicht wahr?" Erneut nickte Albrecht. „Das kommt für mich in Ordnung. Sag ihm das bitte. Ich muss wieder an die Arbeit, und du Brunna auch." Wie aufs Stichwort nickte sie. An mich gewandt versprach sie: „Aber man sieht sich sicher später noch." Lächelnd nickte ich, und die beiden gingen. „Das hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich." erklang Kilians Stimme neben mir. Verlegen sah ich zu Boden. Dann spürte ich, wie der Prinz meine Schulter drückte. „Ich muss nochmal kurz mit Albrecht sprechen. Kommst du alleine klar?" Er schien zu merken, dass mich das alles hier eingeschüchtert hatte. Doch nach dem Gespräch mit Ohio ging es mir schon wesentlich besser und ich fühlte mich weniger schüchtern. Darum nickte ich zuversichtlich und schaffte es sogar, ihn gespielt empört anzusehen. Ich war doch kein kleines Kind, auf das man achtgeben musste! Er wusste, was ich dachte und lachte. „Schon gut, ich geh dann mal!" Nachdem ich ihm kurz hinterhergesehen hatte, wandte ich mich eifrig wieder an Ohio, um ihm die freudige Nachricht zu überbringen.
Einige Zeit später hatte Ohio sich wieder beruhigt von seiner Freude und wir hatten uns noch über eine Menge unterhalten. Wie es ihm in den letzten Jahren so ergangen war, ob er von Geburt an taub war, warum er keine Familie mehr hatte. Irgendwann unterbrach sich der Mann vor mir selbst und meinte, nun wäre es an der Zeit auch seine Fragen zu beantworten. Und welche? Wollte ich interessiert wissen. Ohio beugte sich etwas nach vorne. Warum sprichst du nicht, wenn du es doch kannst? Kurz schluckte ich heftig und sah weg.
T: Ich... ich habe in der Vergangenheit ziemlich schlimme Dinge erlebt.
O: Und jetzt kannst du nicht darüber sprechen?
T: So ähnlich. Ich habe das Gefühl bekommen, dass ich mit meiner Stimme nichts ausrichten kann, egal wie sehr ich es will. Also habe ich ganz aufgehört zu sprechen.
O: Wieso glaubst du, du kannst nichts ausrichten? Sieh doch, was du heute Abend getan hast: Du hast die Kommunikation zwischen mir und der Außenwelt hergestellt. Was meinst du, wie viel effektiver deine Worte sind, wenn du sie nicht einfach nur auf ein Blatt schreibst, sondern ihnen durch Klang und Lautstärke noch mehr Bedeutung verleihst?Einen Moment dachte ich über seine Worte nach. Sie überzeugten mich nicht, mit dem Sprechen wieder anzufangen, doch ich musste ihm zugestehen, dass er mit seinem Argument durchaus Recht hatte. Es wäre wirklich einfacher im Alltag zu sprechen, aber... Reflexartig umklammerte ich das Medaillon an meinem Hals. Die Wunden waren noch nicht verheilt. Ich war noch nicht bereit dafür, mit der Vergangenheit abzuschließen. Und ich zweifelte daran, dass es jemals so sein würde.
Ohio schien zu merken, dass ich nicht weiter darüber reden wollte, denn er verabschiedete sich mit einem aufmunternden Lächeln und nahm mir das Versprechen ab, bald wiederzukommen, da er sich so gerne mit mir unterhielt. Naja, oder weil ich die Einzige war, mit der er sich unterhalten konnte. Trotzdem sagte ich gerne zu. Anschließend betrachtete ich nachdenklich das herrschende Durcheinander im Gasthaus. Inzwischen hatten sich ein paar Herren in eine Ecke gesetzt und spielten mit Instrumenten eine Volksmelodie. Eine große Tür zum Garten war geöffnet worden, um die nun entstehende Tanzfläche, durch zurückgeschobene Bänke und Tische, zu vergrößern. Die Menschen waren fast alle aufgesprungen und stürtzten sich begeistert in den Tanz. Fröhliches Lachen und Gemurmel übertönte die Musik. Lächelnd beobachtete ich die Szene. Dann blieb mein Blick an Kilian und Brunna hängen, die ebenso gut gelaunt miteinander tanzten. Sofort verkrampfte ich mich.
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Sound of Silence
FantasyDie siebzehnjährige Tia reist aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um dort eine Arbeit am Königshof zu finden. Das neue Leben ist fremd und völlig ungewohnt. Sie kann sich zunächst nur schwer einleben, vor allem durch ihr besonderes Handicap. Zusät...